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Josef Bierbichler: Mittelreich | *****

Wenn Schauspieler Romane schreiben, bin ich erst einmal vorsichtig, da sich ein guter Erzähler doch in vielem von einem guten Darsteller unterscheidet. Diese Bedenken sind jedoch bei diesem außergewöhnlichen Roman von Josef Bierbichler, der uns als Theater- und Filmschauspieler aus vielen Filmen und Stücken bekannt ist, völlig fehl am Platz. Bierbichler erzählt die Geschichte einer bayerischen Seewirtschaft über drei Generationen von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Die Betreiber dieses Wirtshauses am Starnberger See mit angeschlossener Landwirtschaft sind weder arm noch wirklich reich, sondern nur mittelreich, Kleinbürger also, die sich von den aufsässigen Arbeitern in den Städten bedroht fühlen, aber auch nicht zu den „feinen Leuten“ gehören, die zwar von ihnen bewundert werden, doch als „Obrigkeit“ gefürchtet sind. Die Katholische Kirche dominiert die kleine Welt mit dem ganzen Spektrum ihres Wirkens: von den Tröstungen im Alltag bis zum sexuellen Missbrauch im Internat.Bei der Machtübernahme der Nazis 1933 sind die Leute froh, dass wieder Ruhe im Land herrscht, die Juden mögen sie sowieso nicht – da hat der Jahrhunderte alte Volks–Antisemitismus der katholischen Kirche seine volle Kraft entfaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist man mit anderen Dingen beschäftigt, man schaut nach vorn aufs Wirtschaftswunder und nicht zu den unschönen Ereignissen der Vergangenheit.Josef Bierbichler hat eine Vielzahl von stimmigen und authentischen Charakteren in seinem Roman untergebracht. Er hat souverän alle Handlungsstränge im Griff und erzählt uns all die kleinen Geschichten in der großen Geschichte. Große Literatur.

Suhrkamp | 2011 | 392 Seiten | Hardcover | Belletristik | 9783518422687 | 22,90 €

Nicolai Lilin: Freier Fall | ****

Buchcover von Nicolai Lilin: Freier FallNach Sibirische Erziehung, seinem ersten autobiographischen Roman aus dem kriminellen Milieu der postsowjetischen Tristesse, legt der russische Autor  Nicolai Lilin mit Freier Fall nun einen weiteren Doku-Roman vor, der seine Erlebnisse als strafversetztes Mitglied einer russischen Spezial-Einheit im Tschetschenien-Krieg schildert. Die hier detailliert beschriebenen Kriegsverbrechen beider Seiten sind nichts für Leser mit schwachen Nerven. Und obwohl die sprachlichen Qualitäten dieses Buches nicht weiter erwähnenswert sind, bleibt die Lektüre dennoch spannend und empfehlenswert: zum einen als literarische Momentaufnahme aus der zerfallenen Sowjetunion, zum anderen als kleiner Kommentar zum laufenden Weltgeschehen 1989ff.

Suhrkamp | 2011 |  398 Seiten | Paperback | 9783518462607 | € 14,95 |

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand | ****

Pawel und Wladek sind fliegende Händler, die Second-Hand-Textilien aus dem reichen Teil des Kontinents auf den riesigen Märkten Osteuropas verhökern. Die Zeiten waren schon mal besser, denn die Konkurrenz durch asiatische Billigprodukte macht ihnen immer mehr zu schaffen. Daher ist es für die beiden notwendig geworden, ihr Geschäftsfeld zu erweitern. Aus der skurrilen Road Novel entwickelt sich schnell eine handfeste Kriminalgeschichte. Andrzej Stasiuk beschreibt in Hinter der Blechwand die untergehende bäuerliche Welt des alten Osteuropa, die auch unter der Oberfläche des Realsozialismus immer existiert hatte & durch die jetzt der scharfe Wind der kapitalistischen Globalisierung fegt. Er betrauert die sich auflösende Ordnung, in der alles zur Ware geworden ist und menschliche Beziehungen keine Bedeutung mehr haben. Stasiuk zeigt, dass uns kein „Eiserner Vorhang“ mehr von jenen Ländern trennt, die in der Staatenkonkurrenz unterlegen sind, sondern eine banale Blechwand, die Armut und Verbrechen verbirgt.

Suhrkamp | 2011 | 344 Seiten | Hardcover | 9783518422540 | 22,90 € |

David Vann: Im Schatten des Vaters | ***

Buchcover von David Vann: Im Schatten des VatersJim will seinem bisherigen Leben einen neuen Dreh geben: mit seinem halbwüchsigen Sohn Roy ein Jahr lang als Selbstversorger in der alaskischen Wildnis leben, fernab jeglicher Zivilisation. Doch Jim ist schlecht vorbereitet: wichtiges Werkzeug fehlt, und die klimatischen Umstände werden falsch eingeschätzt. Die Katastrophe kündigt sich frühzeitig an, und der amerikanische Autor von Kurzgeschichten und Journalist David Vann läßt es in dieser fälschlicherweise als Roman deklarierten Erzählung richtig krachen. Im Schatten des Vaters will eine Vater-/Sohn-Geschichte erzählen als auch eine moderne Abenteuer-Geschichte mit katastrophischem Ende: erstere bleibt ein wenig zu oberflächlich, und im zweiten Teil zieht der Autor zu viele Register, um  glaubwürdig zu bleiben. Das ist schade, denn die Idee hinter dieser Erzählung hätte mit mehr Sorgfalt seitens des Autors als auch des Lektors ein richtig gutes Buch werden können. Nichts für Zartbesaitete – aber trotzdem lesenswert.

Suhrkamp | 2011 | 185 Seiten | Hardcover | 9783518422298 | € 17,90 |

Jaron Lanier: Gadget – Warum die Zukunft uns noch braucht | ****

lanier_gadget1Der Internet-Pionier und Computerwissenschaftler Jaron Lanier wirft in seinem Essay Gadget einen skeptischen Blick auf die Hypes in der aktuellen Netz-Kultur und -Politik. In fünf großen und 14 kleinen Kapiteln  hinterfragt er den tatsächlichen Nutzen, den die zur Zeit bestimmenden Konzepte des modernen Internet – „social web“, „cloud computing“ „open source“ und „Schwarmintelligenz“ – für die Konsumenten & vor allem für die Inhalts-Lieferanten haben. In Abgrenzung zu diesen die Anonymität der Teilnehmer betonenden Konzepten wirbt Lanier für den Wert individueller künstlerischer oder geistiger Tätigkeit, der in der modernen Online-Welt weder gewürdigt noch angemessen vergütet wird, sondern lediglich als Futter für immer ausgefeiltere Algorithmen dient, deren Erfinder die digitale Welt zu einer Plattform für perfekt zugeschnittene Werbung machen wollen. Beispiele aus Wissenschaft, Politik, Finanzwelt und Kultur illustrieren anschaulich, warum das Konzept der „Weisheit der Vielen“ keine Alternative zum altmodisch anmutenden Konzept der „Autorenschaft“ sein kann. Man muß nicht jedem Argument des Autors folgen, um dessen grundsätzliche Kritik nachvollziehen zu können. Lesenswert!

Suhrkamp | 2010 | 247 Seiten | Hardcover | 9783518422069 | € 19,90

Don Winslow: Tage der Toten | ****

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Der neue Kriminalroman von Don Winslow nimmt das internationale Drogen – Business in den Blick und erzählt dem Leser eine komplexe und gut komponierte Story, die von Macht, Funktionsweise und den  Konkurrenzkämpfen der nordmexikanischen Drogenkartelle handelt und dem mehr oder minder misslingendem Kampf dagegen: wo so viel Geld verdient wird wie in dieser Schattenwirtschaft, sind zahlreiche korrupte Politiker, Richter und Polizisten daran interessiert, den Beamten der ermittelnden Behörden – DEA, FBI, CIA – ihre Arbeit so schwer wie möglich zu machen. Tage der Toten ist ein sehr gut recherchierter, temporeicher Narco-Thriller mit melodramatischem Ende – empfehlenswert!

Suhrkamp | 2010 | 690 Seiten | Paperback | 9783518462003 | € 14,95