Schlagwort-Archive: Afrika

Chika Unigwe: Schwarze Schwestern | ****

Buchcover von Chika Unigwe: Schwarze SchwesternDer in Belgien lebenden nigerianischen Literaturwissenschaftlerin Chika Unigwe ist mit ihrem ersten in deutscher Sprache erschienenen Roman ein großer Wurf gelungen. Schwarze Schwestern erzählt die Geschichten von vier nigerianischen Frauen, deren Träume von einem besseren Leben in Europa in einem Bordell eines belgischen Rotlichtviertels ihr Ende finden. Als eine von ihnen ermordet wird, zerbricht der künstlich erzeugte Konkurrenzdruck zwischen ihnen, und in den kunstvollen Gesprächen & Erzählungen über ihr vergangenes Leben entsteht ein beeindruckendes Bild migrantischen Lebens: selten las man eindrücklicher, warum Menschen dort, wo sie eigentlich zu Hause sind, nicht mehr sein wollen.

Tropen | 2010 | 283 Seiten | Hardcover | 9783608501094 | € 19,95

Abdourahman A. Waberi: Tor der Tränen | ***

Dschibril hat eine heikle Mission: Der gebildete Kanadier soll eine Erkundungstour in sein Geburtsland Djibouti unternehmen, um für seine Firma „Adorno Location Scouting“ zu prüfen, ob sich Investitionen in dem Staat am Horn von Afrika wieder lohnen. Doch Dschibril wird beschattet. Islamisten wissen über jeden seiner Schritte Bescheid. Die Kommandos dazu kommen aus einem Gefängnis, in dem ein hochrangiger Djihadist mit seinen Jüngern einsitzt. Schnell sind wir darüber im Bilde, dass Dschibril mit einem der Gotteskrieger verwandt ist.
Abdourahman A. Waberis Roman ist spannend und intelligent geschrieben. Er beschreibt gekonnt die Zerrissenheit von Menschen in einer globalen Welt. Allerdings wirkt das Buch etwas überladen, da in die Handlung, die aus zwei Perspektiven erzählt wird, auch noch die Lebens- und Leidensgeschichte des deutschen Philosophen Walter Benjamin eingearbeitet wurde, der 1940 auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord beging.

Edition Nautilus | 2011 | 159 Seiten | Hardcover | 9783894017347 | 16,00 € |

Nick McDonell: Ein hoher Preis | ***

Layout 1Dieser Polit- und Geheimdienstthriller enthält alles, was das Genre verlangt: CIA-Agenten, zwielichtige „Freiheitskämpfer“ am Horn von Afrika und idealistische Intellektuelle, die Opfer von politischer Desinformation und Verleumdung werden. Nick McDonell kann gut und flott schreiben, allein die Charaktere dieser spannenden Geschichte bleiben doch an etlichen Stellen etwas blaß. Graham Greene, der vom Verlag bemühte Referenz-Autor, läßt zwar grüßen, aber aus großer Ferne.

Berlin Verlag | 2010 | 302 Seiten | Hardcover | 9783827009449 | € 22.-

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa | ****

gatti_bilalAuf der Flucht vor Armut und (Bürger-) Krieg sterben jährlich tausende Afrikaner an den Grenzen der Festung Europa. Eine der Hauptfluchtrouten verläuft von Westafrika durch die Staaten Mali und Niger quer durch die Sahara bis an die libysche Küste. Von dort aus geht es weiter auf ausgemusterten Fischerbooten nach Italien zur Insel Lampedusa. Wir kennen die Bilder: auf völlig überfüllten Schiffen sind halb verhungerte und verdurstete Menschen zu sehen, die von der Küstenwache in italienische Internierungslager gebracht werden. Der Journalist Fabrizio Gatti liefert eine glänzende Reportage dieser Leidens–Odyssee. Er ist auf LKWs mitgefahren, die mit bis zu 250 Menschen beladen sind, er berechnet, wieviel Gewinn ein Fahrzeug mit Flüchtlingen abwirft und wer davon profitiert. Gatti schleicht sich in Wallraff – Manier ins Lager auf Lampedusa ein und beschreibt die skandalösen Zustände, die dort herrschen. Diese aufwühlende Reportage gräbt sich tief in unser Gedächtnis ein und hinterlässt starke Zweifel, ob wir wirklich in der besten aller Welten leben.

Antje Kunstmann | 2010 | 457 Seiten | Hardcover | 9783888975875 | 24,90 €

Peter Linebaugh / Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks | *****

linebaugh_hydraDie amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker beschreiben den Aufstieg des britischen Empire und die Entfaltung des Kapitalismus aus einem radikal anderen Blickwinkel. In der Frühzeit des Kapitalismus, von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, einer Periode, die Karl Marx als „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ definierte, wurden die Grundlagen für den Aufstieg Großbritanniens zur führenden, europäischen Macht gelegt. Der Reichtum einer kleinen, besitzenden Klasse entstand durch Ausbeutung, Gewalt, Terror und Sklaverei. In England wurde ein großer Teil der Landbevölkerung durch Einzäunungen von der Allmende, dem bisherigen Gemeineigentum, ausgeschlossen, in Arbeitshäusern versklavt oder zwangsweise zum Militär und zur Marine gepresst. Das britische Empire ließ Irland, Nordamerika und die Karibik kolonisieren. Sklavenschiffe transportierten hunderttausende Afrikaner in die Karibik und die nordamerikanischen Kolonien, die Ureinwohner Amerikas wurden unterworfen. Die vielköpfige Hydra ist die Geschichte der Unterdrückten und Kolonisierten auf beiden Seiten des Atlantiks, die vielfältige Formen des Widerstandes praktizierten, die teilweise miteinander vernetzt waren und in unzähligen Revolten, Aufständen, aber auch als Piraten die Herrschenden in Angst und Schrecken versetzten und diese von eben jener „vielköpfigen Hydra“ fabulieren ließen, der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue wachsen. Den Autoren ist ein Meisterwerk einer Geschichtsschreibung der sozialen Bewegungen gelungen, das allgemein verständlich und gut lesbar ist.

Assoziation A | 2008 | Paperback | 427 Seiten | ISBN 9783935936651 | € 28,00 |

Nuruddin Farah: Netze | *****

farah_netzeDas Cover dieses großartigen Buches legt nahe, es ginge darin um Stammesangelegenheiten in irgendeinem afrikanischen Land. Das führt in die Irre, denn der somalische Autor Nurrudin Farah erzählt in Netze die Geschichte einer modernen und gebildeten, im kanadischen Toronto lebenden somalischen Frau. Nach der Scheidung von ihrem Mann, dem Tod ihres Sohnes und den gescheiterten Versuchen beruflicher Selbstverwirklichung im Exil  beschließt sie, in das vom 10-jährigen Bürgerkrieg zerstörte Mogadishu zurückzukehren, um das von einem Warlord besetzte Haus ihrer Familie wieder in Besitz zu nehmen. Cambara gelingt es, Beziehungen zu Menschen zu knüpfen, die nicht in der Logik des Bürgerkriegs gefangen sind, um ihre Ziele zu erreichen – beeindruckende Literatur. Obwohl das Jahr noch jung ist: mein Buch des Jahres.

Suhrkamp | 2010 | 483 Seiten | Hardcover | 978-3-518-42103-1 | € 28,80