Schlagwort-Archive: Weimarer Republik

Josef Bierbichler: Mittelreich | *****

Wenn Schauspieler Romane schreiben, bin ich erst einmal vorsichtig, da sich ein guter Erzähler doch in vielem von einem guten Darsteller unterscheidet. Diese Bedenken sind jedoch bei diesem außergewöhnlichen Roman von Josef Bierbichler, der uns als Theater- und Filmschauspieler aus vielen Filmen und Stücken bekannt ist, völlig fehl am Platz. Bierbichler erzählt die Geschichte einer bayerischen Seewirtschaft über drei Generationen von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Die Betreiber dieses Wirtshauses am Starnberger See mit angeschlossener Landwirtschaft sind weder arm noch wirklich reich, sondern nur mittelreich, Kleinbürger also, die sich von den aufsässigen Arbeitern in den Städten bedroht fühlen, aber auch nicht zu den „feinen Leuten“ gehören, die zwar von ihnen bewundert werden, doch als „Obrigkeit“ gefürchtet sind. Die Katholische Kirche dominiert die kleine Welt mit dem ganzen Spektrum ihres Wirkens: von den Tröstungen im Alltag bis zum sexuellen Missbrauch im Internat.Bei der Machtübernahme der Nazis 1933 sind die Leute froh, dass wieder Ruhe im Land herrscht, die Juden mögen sie sowieso nicht – da hat der Jahrhunderte alte Volks–Antisemitismus der katholischen Kirche seine volle Kraft entfaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist man mit anderen Dingen beschäftigt, man schaut nach vorn aufs Wirtschaftswunder und nicht zu den unschönen Ereignissen der Vergangenheit.Josef Bierbichler hat eine Vielzahl von stimmigen und authentischen Charakteren in seinem Roman untergebracht. Er hat souverän alle Handlungsstränge im Griff und erzählt uns all die kleinen Geschichten in der großen Geschichte. Große Literatur.

Suhrkamp | 2011 | 392 Seiten | Hardcover | Belletristik | 9783518422687 | 22,90 €