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Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka – Erinnerungen an Greenwich Village

Foto 12.08.14 13 51 56»Als unschuldiger Provinzler aus dem French Quarter von New Orleans und aus Brooklyn zog ich mit Sheri Donatti zusammen, einer radikalen Version von Anais Nin, deren Protegé sie war. Sheri verkörperte all die neuen Trends in Kunst, Sex und Psychose. Sie sollte meine ›éducation sentimentale‹ werden. Ich machte einen Buchladen auf und ging auf die New School, mit einem GI-Bill-Stipendium. Ich begann mit dem Gedanken zu spielen, Schriftsteller zu werden. Ich dachte über die Beziehung zwischen Männern und Frauen nach, darüber, wie 1947 die Dinge lagen, als die beiden Geschlechter noch etwas umschloß, das Aldous Huxley eine ›feindliche Symbiose‹ nannte. Unsere Lektüre und unsere Gesprächsthemen haben als Landschaft wie das Wetter den Hintergrund gebildet. Im Vordergrund standen unsere Liebesaffären, unsere Freundschaften, das amerikanische Leben und die amerikanische Kunst, in die wir uns wie Schwimmer oder Taucher versenkten. Dieses Buch ist durchweg eine Erzählung, die innere Geschichte, die ein vom Leben in New York City erregter und verwirrter junger Mann in einer Glanzzeit der Stadt persönlich durchlebte.« (Seiten 6/7)

Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka – Erinnerungen an Greenwich Village | Berlin Verlag | 2001 | aus dem Amerikanischen von Carrie Asman u. Ulrich Enzensberger | mit einem Nachwort von Carrie Asman | HC m. SU | 189 Seiten | ISBN: 382700355

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | ****

pollack_kaiser»Wie so viele Auswanderer verläßt auch Mendel Beck im Mai 1888 Galizien in der Hoffnung, der Armut und Rückständigkeit seiner Heimatstadt den Rücken zu kehren – hier sieht er keine Zukunft für sich, egal, wie er sich abmüht, er kommt nicht vom Fleck. In Amerika ist das anders, dort bieten sich jedem zahllose Möglichkeiten, man muß es nur verstehen, die Chancen zu nützen. Mendel ist überzeugt, daß er es schaffen kann, an diese Erwartung klammert er sich wie der Ertrinkende an den Strohhalm.« (Seite 66)

Entlang zahlreicher recherchierter Lebensläufe wie dem des jüdischen Flickschusters Mendel Beck erzählt der gelernte Slawist & Historiker und heute als Journalist & Übersetzer tätige Autor Martin Pollack in seinem Buch Kaiser von Amerika von der knapp 40 Jahre währenden Emigrations-Welle, in der Millionen Osteuropäer seit den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs ihre Heimat verließen, um in anderen Teilen der Welt ihr Glück zu suchen.

Im Mittelpunkt dieses erzählenden, historischen Sachbuchs steht das Armenhaus Österreich-Ungarns, das von Oswiecim (Auschwitz) an der Grenze zu Preußen bis Brody &
Tarnopol nahe der Grenze zu Rußland reichende ›Kronland‹ Galizien. In kunstvoll miteinander verschränkten Kapiteln beschreibt Pollack, warum die in Galizien lebenden Polen, Juden, Russen, Ruthenen (Ukrainer), Ungarn & Slowaken auswanderten, auf welchen Wegen & mit welchen Mitteln sie es taten, und welche Folgen die Emigration hatte – für sie selbst & für die daheim gebliebenen Familienmitglieder.

Der titelgebende ›Kaiser von Amerika‹ beschreibt dabei einen Trick, den zahlreiche ›Agenten‹ (heutiger Sprachgebrauch: Schlepper) der großen Hamburger & Bremer Schifffahrtslinien in Galizien anwandten, um ihre potentiellen & analphabetischen Klienten – verelendete Kleinbauern, Tagelöhner & Handwerker – von den Segnungen des gelobten Landes zu überzeugen: der ›Kaiser von Amerika‹, so ging das Verkaufsgespräch, würde, im Gegensatz zu jenem in Wien (oder in St. Petersburg), seine Untertanen wirklich lieben & habe dort ein Paradies auf Erden geschaffen, in das er ausdrücklich die Juden (Polen, Russen etc.) aus Galizien einlade…

Daß die Einwanderer in den Sweat-Shops der Lower East Side, den Stahlwerken Pennsylvanias & den Sümpfen Brasiliens & Argentiniens (auch dahin gingen zwischenzeitlich kleinere Emigrations-Wellen) kein halbwegs erträgliches Leben, geschweige denn ein Paradies, sondern nur eine neue Hölle auf Erden vorfanden, führte dazu, daß viele in die Heimat zurückkehrten, um von dort manchmal, etwa nach der nächsten Dürre- & Lebensmittelkatastrophe, erneut aufzubrechen: vom Regen in die Jauche – und dahin zurück.

Kaiser von Amerika ist – obwohl  reale & tragische Lebensläufe nacherzählt werden – an keiner Stelle rührselig, wie es sogenannte Erfahrungs-Bücher oft sind: der Autor hält sprachlich die Balance zwischen lebendiger & anteilnehmender Schreibweise, ohne die journalistische Präzision zu vernachlässigen. Obwohl es ein ›Lesebuch‹ ist & keinen ›wissenschaftlichen‹ Anspruch hat, habe ich dennoch folgendes vermißt: ein Quellenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis zum Weiterlesen, und, vor allem, Legenden zu den knapp 20 beigefügten Photographien aus dem Privatarchiv des Autors, die ohne beschreibende Einordnung leider nur atmosphärisches Beiwerk sind, statt den Text zu illustrieren – schade darum.-

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | dtv | 2013 | Paperback | 282 Seiten | ISBN: 9783423142656 | € 9,90

Emmanuel Carrère: Limonow | **/***

 Wie portraitiert man einen Widerling, oder im Duktus des Autors, einen „Drecksack“? Der französische Schriftsteller & Filmemacher Emmanuel Carrère wählt für sein biographisches Buch über den russischen Autor & Politiker Eduard Limonow (bürgerlich Eduard Sawenko) die Form der literarischen Reportage, angereichert mit biographisch-essayistischen Ansichten über die beschriebenen Zeitläufte im Spannungsfeld von russischem Dissidententum, Kaltem Krieg und Zerfall des Ostblocks 1989ff.

Limonov (*1943) startet seine Karriere als jugendlicher Kleinkrimineller in der ukrainischen Industriestadt Charkow, wo er als avantgardistischer Lyriker erste Kontakte zu den lokalen Samisdat-Zirkeln knüpft. In den 60er Jahren zieht er nach Moskau, wo er als Schneider & Autor Teil des literarisch-politischen Untergrunds und im Konkurrenzkampf mit den „prominenten“ Dissidenten ein randständiges Leben als Rüpel, Radikal-Dissident und Playboy führt. In New York entstehen zwischen 1974 und 1980 etliche Bücher, von denen Fuck Off, Amerika, das 1979 in Frankreich erscheint, der erste internationale literarische Erfolg für Limonov wird. Nach weiteren Exil-Jahren in Frankreich kehrt er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Rußland zurück, wo er als politischer Agitator und Gründer der „Nationalbolschewistischen Partei Rußlands“ aktiv ist. Während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien nimmt Limonow auf Seiten serbischer Milizen an Kampfhandlungen wie der Zerstörung Vukovars & der Belagerung Sarajewos teil und vervollständigt hiermit sein eigenes, nun ja – : Portrait des Arschlochs als alter Sack.-

In der Pressemitteilung schreibt Verleger Andreas Rötzer: „…Carrère sagt heute über ihn [Limonow,BS], er fasziniere ihn noch immer, aber Sympathie hege er keine für ihn.“ Dies kann man nur als vorauseilende Schadensbegrenzung deuten, dem die Besorgnis zugrunde liegt, der Leser könne die ständig im Text aufscheinende „Fasziniertheit“ des Autors vom Gegenstand seiner Betrachtung genau für das halten, was sie zu verbergen vorgibt: nämlich die nicht zu leugnende Bewunderung & Verehrung, die der bourgeoise Intellektuelle Carrère für den Frauenverächter, Waffennarr, todessehnsüchtigen & reaktionären Wirrkopf Limonow hegt. An manchen Stellen spricht er ganz offen vermittels des vereinnahmenden „Wir“ von den gemeinsamen Wurzeln avantgardistischer Intellektualität, die sie beide – trotz trennender Ost-/West-Sozialisation – letztlich verbinde. Irgenwann einmal sitzt sogar Putin mit den Genies Limonow & Carrère im selben Boot – spätestens hier kippt das Märchen in die Groteske.

Stark ist Limonow in der Beschreibung jener Zeiten, in denen es noch Orientierung gab für einen ehemaligen französischen Salon-Linken: so gelingt dem Autor mit der Erzählung von Limonows Kindheit und Jugend, den politisch-kulturellen Verhältnissen in den verschiedenen sowjetischen Dissidenten-Szenen der 60er-Jahre und den russischen Exilanten-Zirkeln in New York & Paris durchaus ein spannendes & gut geschriebenes Stück Doku-Literatur.
Daß Carrère sich im weiteren Verlauf der biographischen Erzählung zunehmend selbst in den Vordergrund rückt und den Lauf der Welt eitel & selbstverliebt beplappert, ist zunächst noch langweilig und redundant, später dann, als die Weltgeschichte ihm sein Werkzeug für die zukünftige politische & gesellschaftliche Beurteilung der Wirklichkeit weggenommen hat – in den Kapiteln über Jelzin, Putin & Jugoslawien – nur noch ärgerlich. Und so kann man am Ende des Buches tatsächlich so etwas wie Geistesverwandtschaft zwischen dem portraitierten Künstler und seinem Biographen feststellen, die sich unweigerlich einstellt, wenn ein Wirrkopf über einen anderen schreibt. Irgendwie, nun ja-: faszinierend.-

Matthes & Seitz | 2012 | Hardcover | 414 Seiten | 9783882219951 | € 24,90

André Schiffrin: Paris, New York und zurück – Politische Lehrjahre eines Verlegers | *****

Buchcover von André Schiffrin: Paris, New York und zurück - Politische Lehrjahre eines VerlegersAls Verleger von Pantheon Books und The New Press bot André Schiffrin seit den frühen Sechziger-Jahren Autoren wie Simone de Beauvoir, Michel Foucault, Noam Chomsky, Eric Hobsbawm, Art Spiegelman und Marguerite Duras eine publizische Heimat in den Vereinigten Staaten und war lange einer der führenden Vertreter des konzernunabhängigen Verlegertums und herausragende Persönlichkeit der amerikanischen Linken. Nachdem Schiffrin im Jahre 2000 in Verlage ohne Verleger die katstrophalen Folgen der Konzentration in der Verlagsbranche und die ausschließliche Fokussierung auf die Rendite für unabhängige Verlage, Autoren und Buchhändler in bemerkenswerter Klarheit beschrieben hatte, legt er mit Paris, New York und zurück seine intellektuelle Biographie des Verlegers als junger Mann vor: von der erzwungenen Emigration aus Paris, wo sein Vater Herausgeber der renommierten Pleijade-Reihe war, über die akademische Ausbildung in den USA und Großbritannien, wo die Identifikation mit der studentisch-akademischen Linken ihren Ausgangspunkt nimmt – und die staats-offizielle Verfolgung derselben in den USA ihren Höhepunkt erreicht – , bis zur jahrzehntelang währenden Arbeit beim Pantheon-Verlag, dessen Zerschlagung durch Einverleibung in die Rendite-Logik eines Großkonzerns der Autor Anfang der 1990er Jahre noch einmal kontert mit der Gründung von The New Press, einem Verlag, der sowohl ehemalige Pantheon-Autoren verlegt als auch eine Vielzahl weiterer Autoren, deren Werke durch das Wahrnehmungsraster der stromlinienförmigen Groß-Konzerne fallen: Etienne Balibar, Louis Althusser, Jean Echenoz, Tahar Ben-Jelloun, Primo Levi, Claude Simon, Enzo Traverso, Immanuel Wallerstein…
Schiffrin schreibt klar, elegant und selbstkritisch – großes Lesevergnügen!

Matthes & Seitz | 2010 | 254 Seiten | Hardcover | 9783882216851 | € 22,90 |

Joshua Ferris: Ins Freie | *****

ferris_freieAls der Protagonist dieses Romans, der erfolgreiche New Yorker Anwalt Tim Farnsworth, eines Tages von einer rätselhaften, von keinem physiologischen Befund erklärbaren Krankheit befallen wird, ändert sich sein Leben und das seiner Familie radikal. Was zunächst wenig spektakulär, vielleicht auch etwas banal klingt, entwickelt sich von Beginn an zu erstklassiger Literatur und bewahrt den Spannungsbogen bis zum überzeugenden Ende. Ferris gelingt ein feinnerviges psychologisches Portrait des Protagonisten und seiner Leiden – an jener Krankheit, die der Autor zwar frei erfunden hat, deren mögliche Existenz dem Leser jedoch selbstverständlich zu sein scheint – sowie deren Auswirkungen auf das familiäre Leben. Ins Freie ist ein dramatischer Familienroman, dessen Qualitäten sich mit denen von Jonathan Franzens Korrekturen messen können und eine nachdrückliche Empfehlung für Leser, die Paolo Giordanos Die Einsamkeit der Primzahlen mochten.

Luchterhand | 2010 | 349 Seiten | Hardcover | 9783630872971 | €19,95

Richard Price: Cash | *****

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Cash ist kein Kriminal-, sondern ein urbaner Gesellschaftsroman, angesiedelt in New Yorks Lower Eastside, dem historischen Einwanderer-Viertel, das in seinen Anfängen hauptsächlich von jüdischen Exilanten bevölkert wurde, später dann auch von Chinesen, Italienern und Latinos. Bis in die frühen 80er Jahre war die LES eines der abgewracktesten Stadtquartiere New Yorks, bevor es im Laufe der nächsten zehn Jahre von der kulturellen Boheme besiedelt wurde, um seit den späten 90ern einer fortlaufenden Gentrifizierung ausgesetzt zu sein. Ausgehend von einem nächtlichen Mord und dessen Aufklärung entwickelt Richard Price eine spannende Geschichte, deren Personal – gestresste Polizisten, Drogen dealende Jugendliche, kellnernde Künstler – authentisch und glaubwürdig ist. Sehr gut!

S. Fischer | 2010 | 521 Seiten | Hardcover | 9783100608109 | € 19,95