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Derenthal / Gadebusch / Specht: Das koloniale Auge – Frühe Portrait-Fotografie in Indien | *****

Die Ausstellung und der zugehörige Katalog Das koloniale Auge – Frühe Portraitfotographie in Indien sind ein Projekt dreier staatlicher Berliner Museen (Ethnologisches Museum, Museum für asiatische Kunst, Kunstbibliothek / Museum für Fotografie), das unter der Schirmherrschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und unter der Mitarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen (Ethnologen, Asienwissenschaftlern sowie Kunst- und Photo-Historikern) ein erst kürzlich wieder aufgetauchtes und bisher noch nicht bearbeitetes Konvolut aus rund 300 Vintage-Abzügen aus dem Ethnologischen Museum – von denen 250 im Katalog gezeigt werden – zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Zur Namensgebung schreibt Raffael Dedo Gadebusch, einer der Kuratoren und Herausgeber des Katalogs:

Das „Auge“ der Kamera, die Augen hinter der Kamera und vielleicht auch die Augen vor der Kamera in der Ära des Kolonialismus – all das impliziert der mehrdeutige Titel der Ausstellung sowie der gleichnamigen Publikation (…).

Begleitet wird der thematisch geordnete Tafelteil, der rund 250 Abbildungen aus den nicht immer unterscheidbaren Gattungsbereichen der Portrait-, Typen- und Genrefotografie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt (Ureinwohner, Adel, Jagdtrophäen, Jenseits des Adels, Tanz und Unterhaltung, Kasten und Berufe, Anthropometrie, Sadhus) von sechs kenntnisreichen Essays, die die Entstehung & Ausprägungen der Portraitfotografie in Südasien (Britisch Indien, Ceylon) aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.

So beschreibt R. D. Gadebusch in seinem Aufsatz Echtes oder inszeniertes Indien, warum die photographische Inszenierung in den indischen Foto-Studios den damaligen Seh-Gewohnheiten der Mitteleuropäer geschuldet war und die frühe Photographie dort – wie generell in dieser Zeit – eine starke Nähe zur Malerei hatte; John Falconer beleuchtet in Ethnografische Fotografie in Indien den Zusammenhang zwischen der rasant sich entwickelnden neuen Technologie der Photographie und der Entstehung der Ethnologie als Wissenschaft, und Joachim K. Bautze erläutert am Beispiel des äußerst beliebten Motivs der Bajadere (= Tänzerin, aber auch Kurtisane, Prostituierte…), wodurch eine „echte“ Tänzerin von einer Prostituierten unterscheidbar war. Der Leser erfährt außerdem, wie und unter welchen Bedingungen die frühen Photographen auf dem Subkontinent gearbeitet haben & wie die Produkte ihrer Arbeit den Weg nach Europa & Amerika fanden und dort rezipiert wurden.

 Das koloniale Auge ist ein großartiges Photobuch, das die seinen gezeigten Objekten innewohnenden Ambivalenzen souverän zum Thema macht – Rassismus, „völkerkundliche“ Pseudo-Wissenschaft, anthropometrische „Vermessung“…Die Abbildungen sind hervorragend reproduziert, ebenso wie der Text-Teil höchsten Anforderungen an Typographie, Satzspiegel und Layout genügt – schön, daß es Verlage wie diesen gibt, der die Geschichte & Kunst der Welt weiterhin (wo doch allenthalben schon der Grabgesang gedruckter Kulturvermittlung  eingeläutet wird) in bewährter Form (Print & Papier) zugänglich macht – vielen Dank dafür.-

Koehler & Amelang | 2012 | Hardcover | 25 x 31 cm | 206 Seiten | 262 Abbildungen | 9783733803872 | € 39,90

Baha Taher: Die Oase | ****

Am Ende des 19. Jahrhunderts wird der Offizier Machmud Abdel Sahir, der am Aufstand gegen die britische Kolonialmacht teilgenommen hat, vom komfortablen Kairo sprichwörtlich „in die Wüste geschickt“. Er soll Statthalter des Regimes in der abgelegenen Oase Siwa werden, wo seine beiden Vorgänger ermordet wurden. Zusammen mit seiner irischen Frau macht er sich auf den Weg zu diesem mythischen Ort, an dem schon Alexander der Große das Orakel über sein weiteres Schicksal befragte. Er trifft auf eine archaische Welt, die von Clanstrukturen geprägt ist, und in der es nicht einfach, aber lebenswichtig  ist, zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können. Der ägyptische Autor Baha Taher, 1935 geboren,  hat einen spannenden und klugen Roman geschrieben, der durch die arabischen Revolutionen des Jahres 2011 eine ungeahnte Aktualität bekommen hat.

Union | 2011| 333 Seiten | Hardcover | 9783293004337 | € 19,90 |

Peter Linebaugh / Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks | *****

linebaugh_hydraDie amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker beschreiben den Aufstieg des britischen Empire und die Entfaltung des Kapitalismus aus einem radikal anderen Blickwinkel. In der Frühzeit des Kapitalismus, von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, einer Periode, die Karl Marx als „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ definierte, wurden die Grundlagen für den Aufstieg Großbritanniens zur führenden, europäischen Macht gelegt. Der Reichtum einer kleinen, besitzenden Klasse entstand durch Ausbeutung, Gewalt, Terror und Sklaverei. In England wurde ein großer Teil der Landbevölkerung durch Einzäunungen von der Allmende, dem bisherigen Gemeineigentum, ausgeschlossen, in Arbeitshäusern versklavt oder zwangsweise zum Militär und zur Marine gepresst. Das britische Empire ließ Irland, Nordamerika und die Karibik kolonisieren. Sklavenschiffe transportierten hunderttausende Afrikaner in die Karibik und die nordamerikanischen Kolonien, die Ureinwohner Amerikas wurden unterworfen. Die vielköpfige Hydra ist die Geschichte der Unterdrückten und Kolonisierten auf beiden Seiten des Atlantiks, die vielfältige Formen des Widerstandes praktizierten, die teilweise miteinander vernetzt waren und in unzähligen Revolten, Aufständen, aber auch als Piraten die Herrschenden in Angst und Schrecken versetzten und diese von eben jener „vielköpfigen Hydra“ fabulieren ließen, der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue wachsen. Den Autoren ist ein Meisterwerk einer Geschichtsschreibung der sozialen Bewegungen gelungen, das allgemein verständlich und gut lesbar ist.

Assoziation A | 2008 | Paperback | 427 Seiten | ISBN 9783935936651 | € 28,00 |

André Brink: Kupidos Chronik | ****

BRINK_LAY_final.inddDer südafrikanische Autor, dessen zuletzt auf Deutsch erschienener Roman Die andere Seite der Stille einen nachhaltigen Eindruck hinterließ, erzählt auch in seinem neuen Roman eine Geschichte aus der kolonialen Vergangenheit des südlichen Afrikas, als in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Herrschaft über dieses abgelegene und karge Land wechselseitig von Buren und Engländern ausgeübt wurde. André Brink schafft mühelos den Spagat, einerseits der heidnisch-naturreligiösen Innenwelt des Protagonisten Kupido Kakerlak, der später der erste schwarze Prediger des alten Südafrika werden wird, einen angemessenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen, als auch dem Alltagsleben der Siedler und Missionare, das geprägt ist von struktureller Gewalt, Entbehrung und religiöser Hingabe.

Osburg  | 2009 | 366 Seiten | Hardcover | 9783940731272 | € 19,95

Winston Churchill: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi | *****

churchill_kreuzzugNachdem die Briten sich 1885 aus dem Sudan zurückgezogen hatten, kommt es 1896-1898 zum großen ägyptisch-britischen Feldzug, an dessen Ende die Zerschlagung des Kalifats des Mahdi steht. Der 24-jährige Winston Churchill nimmt als Offizier und Pressebeobachter an diesem Kampf teil und verfaßte einen sprachlich brillanten, ausführlichen Bericht, der zugleich nüchterne Militärgeschichtsschreibung, epische Landschaftsbeschreibung, rasante Abenteuergeschichte, klug beobachtete Analyse der kulturellen Konflikte ist und nicht zuletzt die Anfänge des modernen, politischen Islam beschreibt. Großartig!

Eichborn | 2008 | 447 Seiten | Hardcover | 9783821847658 | € 26,95

Khushwant Singh: Der Zug nach Pakistan | ***

singh_zugLesenswerter Roman über die Folgen des Abzugs der Briten  im Jahr 1947, als der Subkontinent sich in die Staaten Indien und Pakistan teilte und es wechselseitig zur millionenfachen Vertreibung von Hindus, Sikhs und Muslimen kam.

Insel | 2008 | 234 Seiten | Hardcover | 9783458174004 | € 19,80