Schlagwort-Archive: Osmanisches Reich

Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste | *****

Wegner_Tiff:Layout 1Der vom Wuppertaler Germanisten Andreas Meier herausgegebene und mit kritischem Apparat versehene Lichtbildvortrag des Juristen, Lyrikers, Reiseschriftstellers & Sanitätsunteroffiziers Armin T. Wegner (1886 – 1978) über die Vertreibung & Ermordung der Armenier im Schatten des Ersten Weltkriegs ist ein gelungenes Beispiel für eine interdisziplinäre Publikation im Spannungsfeld zwischen literaturhistorischer Forschung, historischer Quellenkritik, Photographiegeschichte & medienhistorischer Einordnung. Neben dem hier erstmals publizierten Vortrag, der aus dem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegenden Nachlaß Wegners rekonstruiert wurde, unternimmt Meier den Versuch, die auch dort (und in anderen Archiven verstreut) liegenden photographischen Objekte (Abzüge, Glasplatten, Negative) eindeutig zuzuordnen, was aufgrund fehlender (oder falscher) Beschriftung & uneindeutiger Herkunft außerordentlich schwierig ist.

Armin T. Wegner gilt als einer der wenigen Augenzeugen der massenhaften Entrechtung, Vertreibung und genozidalen Vernichtung der Armenier im Verlauf des ersten Weltkriegs. Der titelgebende Lichtbildvortrag, den er erstmals am 19. März 1919 in Berlin hält, basiert auf seinen Beobachtungen, die er in den Jahren 1915/16 als Angehöriger deutscher Sanitätseinheiten im Osmanischen Reich gemacht hatte. Auch ein Teil der dort gezeigten Photographien stammen von ihm selbst, andere waren bereits publiziert oder stammen aus anderen Quellen, was Wegner in der Folge neben der Anerkennung seiner Anstrengungen, die Greueltaten an der armenischen Bevölkerung publik zu machen, auch den Vorwurf mangelnder Seriosität eintrug, etwa wenn vereinzelte Bilder nachweisbar nicht das darstellten, was sie behaupteten. Deutsch-national gesinnte Kreise und die kemalistischen Jungtürken hielten die auch heute noch vom türkischen Establishment vertretene These, die Vertreibungen & Exekutionen seien die ausschließliche Folge kriegsbedingter Notwendigkeiten gewesen, auch damals für den alleinigen Grund der Ereignisse & wollten Kritik am jeweiligen Verbündeten um jeden Preis vermeiden.

In seinem Nachwort beleuchtet der Herausgeber Wegners Künstler – Biographie als auch dessen werkgeschichtliche Entwicklung und zeigt anhand zahlreicher Beispiele, daß sich Wegner selbst stets mehr als Dichter und Literat denn als Journalist oder Dokumentarist verstand, der im Zweifel lieber eine spannende als eine wahre Geschichte erzählen wollte.

Der ergänzende Essay des ehemaligen Journalisten und sachkundigen Kenners der Ereignisse um die Vertreibung & die Ermordung der türkischen Armenier, Wolfgang Gust, ordnet die forschungsaktuelle Quellenlage, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob und welche deutschen Offiziere (als Teile deutscher Einheiten als auch als Verbindungsoffiziere in verschiedenen osmanischen Heereseinheiten) oder Beamte in den entsprechenden Ministerien bereits zum damaligen Zeitpunkt Kenntnis von den Massenvertreibungen & -exekutionen hatten. Die sich aus dem ausführlichen Studium von Quellen aus dem „Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes“ ergebenden Vermutungen, deutsche Militärs oder Beamte seien auch direkt an Greueltaten an der armenische Bevölkerung beteiligt gewesen, lassen sich – bis auf einen Fall – nicht belegen. Die Nachweise hingegen, daß leitende Beamte & Diplomaten z.T. ausführliche Kenntnisse der von Wegner berichteten Ereignisse hatten, zeigen einmal mehr, welche Tugend im Kriegsfall zu den ersten Opfern gehört.-


Wallstein | 2011 | Hardcover | 215 Seiten | 9783892448006 | € 24.-


Links:  Wallstein Verlag  Armin T. Wegner  Andreas Meier  Wolfgang Gust

Ivo Andric: Die Brücke über die Drina | *****

Die Brücke über die Drina ist das bekannteste Werk des in Bosnien als Sohn kroatischer Eltern geborenen jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric (1882 – 1975), der 1961 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die hier vorliegende Ausgabe ist eine Bearbeitung der deutschen Erstübersetzung aus den 50er Jahren. Gleichwohl der Verlag dieses Buch als Roman bezeichnet, ist der Untertitel – „Eine Chronik aus Višegrad“ – die bessere Gattungsbeschreibung.

Denn es gibt in Die Brücke über die Drina weder eine Hauptfigur noch ein „Ensemble von Gestalten“ ( Karl Markus Gauß im Nachwort), das einen kontinuierlichen Handlungsablauf bevölkert, sondern eine Vielzahl von Charakteren, deren alltägliche, traurige, bizarre und zuweilen humorvolle Lebensgeschichten Andric über einen Zeitraum von rund 350 Jahren erzählt. Ort der Handlung ist die Kleinstadt Višegrad – in der Andric seine Kindheit verbrachte – in einem Tal der Drina, die Jahrhunderte lang die natürliche Grenze zwischen dem mitteleuropäisch und dem orientalisch geprägten Teil des Balkans war. Die dort im 16. Jahrhundert von einem despotischen Baumeister des damaligen osmanischen Sultans in Istanbul errichtete Brücke ist die eigentliche „Hauptperson“ dieser Chronik: sie allein überdauert die vielfältigen Konflikte zwischen den verfeindeten Volksgruppen und Religionen sowie die wechselseitigen Kriege & Eroberungen der in diesem Teil der Welt um Vorherrschaft ringenden Weltmächte.

Andric‚ elegante Sprache und sein Sinn für Dramaturgie erwecken die von ihm portraitierten Bewohner dieser an der Peripherie der Imperien gelegenen Kleinstadt zu spannender Lebendigkeit: türkische Bauern & Kleinhändler, orthodoxe Popen & Großgrundbesitzer, österreichische Offiziere und jüdische Hoteliers sowie Verrückte, Verlorene & Trunkenbolde jeglicher Couleur & Abstammung bevölkern diese Chronik am Rande der Welt. Noch einmal Karl Markus Gauß im Nachwort über die „Über-Gewichtung“ der „österreichischen“ Jahre (1875 – 1914) gegenüber den 300 Jahren unter osmanischer Herrschaft:

„(…) Das hat unter anderem die bemerkenswerte, jedoch selten bemerkte Folge, daß diese fesselnde jugoslawische Chronik auch ein Werk über die letzten Jahrzehnte der zerfallenden Donaumonarchie ist. Überhaupt sollte ihr Verfasser nicht immer nur im Zusammenhang mit den jugoslawischen Literaturen, sondern auch im Vergleich mit den großen mitteleuropäischen Erzählern seiner Zeit gesehen und gelesen werden (…).“

Meine Mutter hatte Recht: seit 1967 Jugoslawien bereisend, schwärmte sie, so lange ich mich  erinnern kann, für die Bücher von Ivo Andric – ich freue mich auf weitere Lektüre dieses großen Autors.-

Zsolnay | 2011 | Hardcover | 493 Seiten | 9783552055230 | € 25,90

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert | *****

Die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert der in München lehrenden Historikerin Marie-Janine Calic ist der erste Versuch einer Gesamtdarstellung in deutscher Sprache. Neben den ereignisgeschichtlichen Wegmarken beschreibt die Autorin auch ausführlich die sozialen Verhältnisse in den Regionen & Volksgruppen sowie die intellektuellen Debatten, die sie stets im gesamteuropäischen Kontext bewertet. Ihre Kernthese lautet:

…nicht balkannotorische Unverträglichkeit und ewiger Völkerhass unterliefen das Projekt südslawischer Gemeinschaftlichkeit, sondern (…) die Politisierung von Differenz in der modernen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ausgehend von den Anfängen des südslawischen Nationalismus im späten 19. Jahrhunderts schlägt Calic große Bögen zu den epochalen Ereignissen dieses extrem komplexen Staats-Gebildes: von den Balkankriegen 1913/14 und 1914/18 (und dem Untergang der sich bis dahin den Balkan teilenden Imperien nach Ende des ersten Weltkriegs) zum ersten jugoslawischen Staat (1918 – 1941); von dessen Zerfall im von Nazi-Deutschland initiierten Vernichtungskrieg in Südosteuropa und dem damit einhergehenden erfolgreichen Widerstand der von Tito geführten kommunistischen Partisanen-Bewegung zum zweiten Versuch, unter dem Banner von „Brüderlichkeit und Einheit“ und mit den Mitteln sozialistischer und später auch gemäßigt marktwirtschaftlicher Selbstverwaltung die höchst unterschiedlich entwickelten Völker und Regionen in einem auf ethnisch-proportionalen Ausgleich beruhenden Staat zu befrieden; von den Anfängen der Krise dieses auch außenpolitisch erfolgreichen Staates im Rahmen der post-fordistischen, weltweiten Krise der industriellen Produktion in den 70er Jahren, auf die der aufgeblähte Apparat der dezentalisierten, ökonomischen Selbstverwaltung keine andere Antwort fand als die Flucht in astronomische Verschuldung bis zu den nach Titos Tod 1980 beginnenden Versuchen, die nicht zu bewältigende ökonomische Krise in nationalistische & religiöse Erklärungsmuster zu transzendieren; und schließlich die nach dem Ende der „System-Konkurrenz“ sich hemmungslos entfaltenden national & religiös aufgeladenen Egoismen der Regionen & Völker, die unter tatkräftiger Mithilfe europäischer & transatlantischer Hilfe zurechtgebombt wurden in zukünftige EU-Aspiranten & Protektorate zweifelhafter Überlebensfähigkeit.

Trotz sprachlicher Schwächen und gelegentlicher inhaltlicher Widersprüche gelingt Marie-Janine Calic ein beeindruckendes Buch über einen der faszinierendsten Staaten der jüngeren Geschichte. Empfehlung!

Beck | 2010 | Paperback | 415 Seiten | 9783406606465 | € 26,95