Schlagwort-Archive: Widerstand

Amir Hassan Cheheltan: Amerikaner töten in Teheran | ****

In sechs eng miteinander verschränkten Episoden erzählt der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Buch Amerikaner töten in Teheran eine kurze Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert und der Ursachen antiamerikanischer Ressentiments. Ausgehend von der Emordung des amerikanischen Botschaftsangehörigen Robert Imbrie, der im Jahr 1924 während einer religiösen Massenzeremonie vom schiitischen Pöbel erschlagen wird, führt der Autor den Leser entlang wichtiger Wegmarken durch die iranische Geschichte: dem 1953 maßgeblich von der CIA vorbereiteten Putsch des Schahs gegen die demokratisch legitimierte Regierung Mossadegh; der Ermordung eines amerikanischen Militärberaters durch Mitglieder einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Jahr 1973; dem Anschlag islamistischer Terroristen auf ein hauptsächlich von Amerikanern besuchtes Restaurant 1978, bei dem der Großneffe von Robert Imbrie ums Leben kommt, bis zu einer Massenhinrichtung durch die Islamisten im Jahr 1988, der auch Resa, ehemaliger Kommunist und Widerstandskämpfer gegen das Schah-Regime, zum Opfer fällt.
Diese „Geschichten der Geschichte“ eines komplexen geo-kulturellen Raumes zwischen religiösem Wahn, den Versuchen zaghafter Modernisierung und imperialer Machtpolitik zwecks Ausbeutung des Ölreichtums sind spannend, sprachlich souverän erzählt und dramaturgisch geschickt kombiniert.

Beck | 2011 | Hardcover | 187 Seiten | 9783406621604 | € 18,95

Richard Overy: Russlands Krieg 1941- 1945 | *****

Buchcover von Richard Overy: Russlands Krieg 1941- 1945Vor 70 Jahren begann der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion. Von Anfang an wurde der Krieg im Osten als Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung geführt. Insgesamt hatte die Sowjetunion nach neuesten Zahlen 27 Millionen Opfer zu beklagen. Richard Overy, Professor für Geschichte an der Universität Exeter und Autor verschiedener Bücher zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs, schildert alle Stationen des grausamsten Krieges der Geschichte der Menschheit. Er beschreibt ausführlich die Vor- und Nachgeschichte des Krieges und lässt alle Ereignisse Revue passieren: von den Anfangssiegen der Wehrmacht über die Aushungerung Leningrads bis zur Kriegswende 1942/43 in der Schlacht von Stalingrad und weiter mit den Meilensteinen zum Sieg über das Hitlerregime, der Panzerschlacht bei Kursk und der Eroberung Berlins. Trotzdem ist das Buch keine reine Militärgeschichte. Es schildert ausführlich die Leiden der Zivilbevölkerung und der einfachen Soldaten. Overy führt uns den militärischen Dilettantismus Stalins vor Augen, der alle Warnungen vor dem deutschen Angriff beharrlich ignorierte und nach dem Sieg alle populären Militärs, die ihm gefährlich werden konnten, entweder kaltstellte, in Gulags deportieren oder ermorden ließ. Das Buch räumt gründlich mit dem Mythos vom „sauberen Krieg“ der Nazi – Wehrmacht auf. Jeder, der sich für die Vergangenheit, die noch nicht vergangen ist, interessiert, sollte es lesen.

Rowohlt | 2011 | 554 Seiten | Taschenbuch | 9783499627156 | 13,99 €|

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen | *****

lanzman_patagonische Claude Lanzmann, geboren 1925, Journalist und Dokumentarfilmer, Freund von Sartre, Geliebter von Simone de Beauvoir, Herausgeber von Les Temps Modernes, Regisseur von Shoah, erzählt in diesem Buch seine Lebensgeschichte. Der Sohn nach Frankreich emigrierter osteuropäischer Juden muss zusammen mit seiner Familie während der deutschen Besatzung untertauchen. Als Gymnasiast kämpft er in der französischen Resistance. Lanzmann studiert nach dem Krieg Philosophie in Tübingen, lehrt an der Freien Universität Berlin und arbeitet später in Paris als Journalist für verschiedene Zeitschriften. Er engagiert sich gegen die Todesstrafe und für die Unabhängigkeit Algeriens. Sein Lebensthema aber ist das Eintreten für das Existenzrecht Israels als Zufluchtsort der den Holocaust überlebenden Juden und der Versuch, den Zivilisationsbruch der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden zu dokumentieren und zu verstehen. Lanzmann lässt die Pariser Intellektuellenszene der 1950er und 60er Jahre noch einmal lebendig werden und schildert politische und private Diskussionen, kleine und große Abenteuer und Reisen. Manchmal ermüdet das Namedropping ein wenig, denn der Autor ist nicht uneitel. Doch die Beschreibung der jahrelangen Dreharbeiten für den epochemachenden Dokumentarfilm Shoah und der anschließenden Rezeption entschädigt für alles. Mit großem Aufwand recherchiert Lanzmann in Europa, den USA und Israel. Der neunstündige Film kommt ohne eine einzige Archivszene aus. Er besteht nur aus Interviews mit Opfern und auch mit Tätern, was für das Filmteam nicht immer ungefährlich war. So rekonstruiert dieses Meisterwerk minutiös alle Stationen des Holocaust. Der patagonische Hase ist für mich das Buch des Jahres. Es ist ein wichtiger Mosaikstein zum Verständnis des 20. Jahrhunderts.

Rowohlt | 2010 | 681 Seiten | Hardcover | 9783498039394 | 24,95 € |

 

Antony Beevor: D-Day – Die Schlacht um die Normandie | ****

beevor_d-dayDer britische Historiker und Publizist, der bereits zahlreiche, umfangreiche Werke zum zweiten Weltkrieg vorgelegt hat – Spanischer Bürgerkrieg, Schlacht um Stalingrad, Schlacht um Berlin, Luftschlacht um Kreta – schildert in seinem neuen Buch kenntnis- und detailreich die Invasion der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944: von den schwierigen Vorbereitungen unmittelbar vor der Invasion über die für die Alliierten sehr verlustreiche Anlandung und die monatelang sich hinziehenden, schweren Kämpfe in Normandie, Bretagne und Pariser Umland bis zur Vertreibung von SS und Nazi-Wehrmacht aus Paris. Anfängliche Zweifel an Sinn und Zweck derart detaillierter Beschreibung von Kampfhandlungen und strategisch-taktischen Entscheidungen verschwinden rasch bei fortschreitender Lektüre, da der Autor es ausgezeichnet versteht, die komplexen Zusammenhänge hinter den Kampfhandlungen und Entscheidungen anschaulich zu machen.
Die ausführliche Beschreibung alliierter Kriegsverbrechen an der französischen Zivilbevölkerung sorgte im anglo-amerikanischen Sprachraum für allerlei Aufregung. Für hiesige Leser scheint mir der Blick, den der Autor auf die zur Zeit des Stauffenberg-Attentats in der Wehrmachtsführung in Frankreich kämpfenden „Sympathisanten“ des Widerstands wirft, von größerer Bedeutung, denn er zeigt, wie verzagt und feige diese „Widerstandskämpfer“ waren. Statt mutige persönliche Entscheidungen gegen das Hitler-Regime zu treffen – angesichts der nicht mehr zu leugnenden, baldigen Niederlage – , entschieden sie sich für den Kampf  „bis zum letzten Mann“.

C. Bertelsmann | 2010 | 636 Seiten | Hardcover | 9783570100073 | € 28.-

Erich Hackl: Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte | ****

hackl_salzmann1So hat es sich zugetragen: In den 1990er Jahren tritt der 24jährige Hanno Salzmann eine Stelle bei der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse an. Leider vertraut er einem Kollegen und spricht folgenden Satz aus: “Meine Oma ist in einem KZ umgekommen.“ Das hätte er nicht sagen sollen in Österreich gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von dieser Begebenheit berichtet Erich Hackl von drei Generationen der Familie Salzmann: deutsche und österreichische Kommunisten, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv waren, die aber auch in den Nachfolgestaaten Nazideutschlands ihre Heimat nicht fanden. Hackl erzählt sachlich und nüchtern von den Beschädigungen und Spuren, die das Leben bei jenen hinterlässt, die sich nicht anpassen und liefert ein Lehrstück über Antisemitismus, der noch immer in der Mitte unserer Gesellschaft seinen Ursprung hat.

Diogenes Verlag | 2010 | 186 Seiten | Hardcover | 9783257067583| €19,90 |

Laura Alcoba: Das Kaninchenhaus | ****

alcoba_kaninchenhausLaura ist sieben Jahre alt, als ihr Vater verhaftet wird. Sie erzählt uns, wie es ist, in Argentinien Mitte der 70er Jahre mit der Mutter im Untergrund zu leben. Die Eltern sind Aktivisten der Monteneros, einer linken Widerstandsbewegung gegen das Militärregime, das jede Opposition mit Gefängnis, Folter und Mord verfolgt. Am Stadtrand von Buenos Aires leben Tochter und Mutter in einem kleinen Haus mit einem Schuppen auf dem Hof. In diesem Schuppen befindet sich, als Kaninchenzucht getarnt, die Druckerei der Monteneros. Die Mutter lebt in ständiger Angst, dass Laura versehentlich ihr Versteck verraten könnte. Inmitten dieser alltäglichen Konspiration und Bedrohung wächst Laura auf. Laura Alcoba hat einen beeindruckenden Roman geschrieben, der in der Sprache eines Kindes den Schrecken der Militärdiktatur um so wirkungsvoller beschreibt.

Suhrkamp Verlag | 2010 | 118 Seiten | Hardcover | ISBN 9783458174929 | € 15,90 |