Schlagwort-Archive: Russische Revolution

Michel Matveev: Die Armee der namenlosen Revolutionäre. Rußland 1905. | *****

matveev_armee»Die russische Revolution von 1905 hat überall gleichzeitig angefangen, von Wladiwostock bis Sewastopol. Um sie vorzubereiten, um in diesem großen Land eine so konzentrierte Leistung zu bringen, bedurfte es einer großen Menge einfacher robuster Revolutionäre, einer Masse von Soldaten. Ich will Ihnen etwas von den bescheidenen Berufsrevolutionären erzählen, wie sie agierten, wie sie lebten, diese Armee der Namenlosen, wie ernst sie es meinten und wie wichtig es Ihnen war.« (Seite 5)

Mit diesen Zeilen beginnt der Zeugenbericht des vermutlich 1892 in Jaffa geborenen Joseph Constantinovsky (später: Constant), dessen Erstausgabe 1929 in Paris unter dem Pseudonym Michel Matveev  erschien, und die man durchaus als knappes & neugierig machendes Inhaltsverzeichnis dieses schmalen Bandes lesen kann.

In kurzen Kapiteln erzählt der Autor von den Lebensbedingungen der Arbeiter, Bauern & Soldaten im Zarenreich unmittelbar vor der Revolution, ebenso wie von den konspirativen Tätigkeiten, die die Vorraussetzungen dafür schufen, daß die seit Jahrzehnten gärende Unzufriedenheit & immer weiter fortschreitende Verelendung der Bevölkerungsmehrheit nicht mehr nur in gewalttätigen, anarchistischen Einzelaktionen sichtbar wurde, sondern durch die Koordinierung & Agitierung großer Bevölkerungsteile, die dann durch Volksaufklärung, Massenaufläufe, Demonstrationen, Straßenkämpfe und Generalstreiks das zaristische Imperium an den Rand des Zusammenbruchs führten.

Matveev berichtet von den Verhältnissen in den Krankhäusern, Kasernen & überfüllten Gefängnissen, von den Elendsquartieren der städtischen Arbeiterschaft & des Lumpenproletariats, von der Hoffnungslosigkeit der durch ständigen Hunger und Alkoholismus völlig verwahrlosten Landbevölkerung. Angesichts derartiger Zustände bedurfte es ungeheuerer Anstrengungen, die ›Erniedrigten und Beleidigten‹ davon zu überzeugen, daß revolutionäres Handeln zumindest die Hoffnung auf ein besseres Leben als das derzeitige verwirklichen könnte.

Die Armee der namenlosen Revolutionäre ist ein fokussierter, literarischer Parforceritt durch die russische Sozialgeschichte unter den Bedingungen revolutionärer Verhältnisse. Matveevs Sprache ist eine vibrierende & widerspiegelt insofern, wovon sie berichtet: mal ähnelt sie einer atemlos gehaltenen Rede, mal der Niederschrift eines fiebrigen Traumes, und die Tatsache, daß sie den Leser tief berührt und bewegt, ist zweifelsohne Rudolf von Bitters gelungener Übersetzung zu verdanken.

Bitter fragt sich in seinem informationsreichen, kundigen Nachwort, ob & in welcher Funktion der damals dreizehnjärige Constantinovsky/Matveev selbst als ›namenloser‹ Revolutionär aktiv teilnehmen haben könne, und vermutet:

»Bei alldem schreibt Mateev nie, was genau seine Tätigkeit gewesen ist im Jahr 1905. War sein Vater der ›mobile Mechaniker‹, der bei den Bauern Agitationsarbeit betreibt und wegen solcher Aktivitäten verbannt wurde? Als Mechaniker und Schlosser war der Autor, damals um die 13 Jahre alt, natürlich der Richtige für den Umgang mit Maschinen. Da er so viel über Druckereien schreibt, möchte man meinen, er sei auf diesem Gebiet tätig gewesen. Immerhin liegt es nahe, und vielleicht wird man es eines Tages noch herausfinden. Zunächst ist dies Buch vor allem ein Zeugnis aus erster Hand, plastisch, subjektiv, lebhaft und spannend.« (Seite 130)

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, daß dieses Buch auch außergewöhnlich schön gestaltet ist, was nicht nur für den Umschlag gilt, sondern auch für Layout, Typographie & Papier. Starke Empfehlung!

Michel Matveev: Die Armee der namenlosen Revolutionäre. Rußland 1905. | aus dem Französischen mit Anmerkungen & einem Nachwort von Rudolf von Bitter | Weidle Verlag | 2014 | fadengeheftete Broschur | 129 Seiten | ISBN: 9783938803639 | € 16,90

Leonardo Padura: Der Mann, der Hunde liebte | ****

Der cubanische Autor Leonardo Padura, der im deutschen Sprachraum mit seinem Kriminalromanzyklus „Das Havanna Quartett“ bekannt geworden ist, legt mit Der Mann, der Hunde liebte einen bemerkenswerten politisch-historischen Roman vor. Eingebettet in eine Rahmenhandlung, die im Cuba der 1990er Jahre spielt (und die gerne etwas knapper hätte ausfallen dürfen) und jene Zeit extremer materieller Not und geistiger Hoffnungslosigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion auf der Karibikinsel in eindrücklichen Bildern schildert, erzählt Padura aus wechselnden Perspektiven die Geschichte zweier Männer, deren Schicksale verhängnisvoll miteinander verknüpft sind. Zum einen ist es die Geschichte des exilierten russischen Revolutionärs Leo Trotzki vom Zeitpunkt seiner Verbannung im Jahr 1929 bis zu seiner Ermordung 1940 in Mexiko, zum anderen die seines Mörders, des spanischen orthodoxen Kommunisten Ramon Mercader. Scheinbar mühelos gelingt es dem Autor, die komplizierten Geschehnisse der dreißiger Jahre in der Folge des endgültigen Scheiterns der russischen Revolution les- und verstehbar zu machen: die Ausschaltung Trotzkis als mächtigsten Kritiker der stalinistischen Diktatur ebenso wie die Hinrichtung zahlloser Veteranen der Oktober-Revolution während der Moskauer Schauprozesse, und nicht zuletzt die von Stalin aktiv betriebene Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg. Der Mann, der Hunde liebte ist ein ungemein spannender, historischer Thriller, auf dessen Verfilmung von Loach, Spielberg, Inarritu oder Soderbergh wir uns jetzt schon freuen.

Union | 2011 | Hardcover | 729 Seiten | 9783293004252 | € 24,90 |

John Gray: Politik der Apokalypse – Wie Religion die Welt in die Krise stürzt | ***

gray_politikDer an der London School of Economics lehrende John Gray versucht in seinem neuen Buch nachzuweisen, daß die großen, säkularen Bewegungen der Neuzeit – Jakobinismus, Bolschewismus, Nationalsozialismus und der derzeit vorherrschende neokonservative Liberalismus – mehr mit den eschatologischen und apokalyptischen Tendenzen des Frühchristentums und der millenaristischen Sekten des Mittelalters zu tun haben, als es gemeinhin angenommen wird. Kenntnisreich und in nüchternem, eleganten Duktus – also in erfreulichem Gegensatz zu den Erwartungen, die der etwas reißerische Titel weckt – führt der Autor den Leser durch die ideengeschichtliche Welt des Abendlandes. Man muß nicht in jedem Detail der Argumention zustimmen, um dieses spannende Buch mit Gewinn lesen zu können.

Klett-Cotta | 2009 | 363 Seiten | 9783608941142 | € 22,90

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes – die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924 | *****

figes_tragodie1Ein unglaubliches Buch ! Orlando Figes liefert eine umfassende Ereignis- und Sozialgeschichte einer Epoche. Er beschreibt detailliert das rückständige Russland und die unglaubliche Armut, den Aberglauben und die Dummheit der in sklavischer Abhängigkeit ihrer Großgrundbesitzer lebenden bäuerlichen Bevölkerung in den Dörfern der russischen Provinz. Er schildert den Aufstieg der Bolschewiki, die Revolution von 1917 und den darauf folgenden Bürgerkrieg, der von beiden Seiten mit äußerster Grausamkeit geführt wurde. Dabei räumt er mit rechten und linken Mythen zur Oktoberrevolution gründlich auf. Das Buch gilt zu Recht als Standardwerk.

Berlin Verlag | 2008 |  975 Seiten | 9783827008138 | Taschenbuch | € 19,90