Archiv der Kategorie: Kunst

Herman Melville: Bartleby

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»Schluck, der zweite auf meiner Gehaltsliste, war ein fünfundzwanzigjähriger, blasser, backenbärtiger junger Mann von insgesamt eher piratenhaftem Aussehen. Ich sah ihn immer als das Opfer zweier böser Mächte: Ehrgeiz und Verstopfung. Sein Ehrgeiz zeigte sich in einer gewissen Unzufriedenheit mit den Pflichten eines bloßen Kopisten, in anmaßenden Eingriffen in juristische Angelegenheiten wie dem eigenmächtigen Ausfertigen von Rechtsdokumenten im Original. Seine Verdauungsstörungen äußerten sich in einer gelegentlichen nervösen Angespanntheit, einer grimmigen Reizbarkeit, die ihn hörbar mit den Zähnen knirschen ließ, wenn ihm beim Abschreiben ein Fehler unterlaufen war; dazu kamen Flüche und Verwünschungen, mehr gezischelt als gesprochen im Eifer des Gefechts; und insbesondere eine ständige Unzufriedenheit mit der Höhe seines Schreibtisches. Obwohl sich dieser Tisch dank einer genialen Mechanik vielfach verstellen ließ, konnte Schluck nicht seinen Frieden mit ihm machen. Er legte Holzstücke unter, Klötze verschiedenster Art, Pappstückchen und bemühte sich schließlich um perfekte Feinabstimmung mit Schnipseln von gefaltetem Löschpapier. Aber es half alles nichts. Wenn er, um seinen Rücken zu entspannen, die Schreibtischplatte in einem spitzen Winkel bis auf Kinnhöhe aufstellte und darauf schrieb wie jemand, der das steile Dach eines holländischen Hauses als Schreibtisch benutzt, dann klagte er über mangelnde Durchblutung seiner Arme. Wenn er dann den Tisch bis an den Hosenbund absenkte und sich beim Schreiben über ihn beugte, bekam er Rückenschmerzen. Kurz, in Wirklichkeit wußte Schluck nicht, was er wollte. Oder wenn überhaupt, dann wollte er seinen Schreibtisch ganz und gar los sein.« (Seiten 10/11)

[Herman Melville: Bartleby; Merlin Verlag, 2. Aufl. 1999, Deutsch von John und Peter von Düffel, mit 9 Illustrationen von Peter Paone, 21 x 27 cm, HC o. SU, Fadenheftung, 56 Seiten, ISBN: 3926112921]

Derenthal / Gadebusch / Specht: Das koloniale Auge – Frühe Portrait-Fotografie in Indien | *****

Die Ausstellung und der zugehörige Katalog Das koloniale Auge – Frühe Portraitfotographie in Indien sind ein Projekt dreier staatlicher Berliner Museen (Ethnologisches Museum, Museum für asiatische Kunst, Kunstbibliothek / Museum für Fotografie), das unter der Schirmherrschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und unter der Mitarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen (Ethnologen, Asienwissenschaftlern sowie Kunst- und Photo-Historikern) ein erst kürzlich wieder aufgetauchtes und bisher noch nicht bearbeitetes Konvolut aus rund 300 Vintage-Abzügen aus dem Ethnologischen Museum – von denen 250 im Katalog gezeigt werden – zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Zur Namensgebung schreibt Raffael Dedo Gadebusch, einer der Kuratoren und Herausgeber des Katalogs:

Das „Auge“ der Kamera, die Augen hinter der Kamera und vielleicht auch die Augen vor der Kamera in der Ära des Kolonialismus – all das impliziert der mehrdeutige Titel der Ausstellung sowie der gleichnamigen Publikation (…).

Begleitet wird der thematisch geordnete Tafelteil, der rund 250 Abbildungen aus den nicht immer unterscheidbaren Gattungsbereichen der Portrait-, Typen- und Genrefotografie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt (Ureinwohner, Adel, Jagdtrophäen, Jenseits des Adels, Tanz und Unterhaltung, Kasten und Berufe, Anthropometrie, Sadhus) von sechs kenntnisreichen Essays, die die Entstehung & Ausprägungen der Portraitfotografie in Südasien (Britisch Indien, Ceylon) aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.

So beschreibt R. D. Gadebusch in seinem Aufsatz Echtes oder inszeniertes Indien, warum die photographische Inszenierung in den indischen Foto-Studios den damaligen Seh-Gewohnheiten der Mitteleuropäer geschuldet war und die frühe Photographie dort – wie generell in dieser Zeit – eine starke Nähe zur Malerei hatte; John Falconer beleuchtet in Ethnografische Fotografie in Indien den Zusammenhang zwischen der rasant sich entwickelnden neuen Technologie der Photographie und der Entstehung der Ethnologie als Wissenschaft, und Joachim K. Bautze erläutert am Beispiel des äußerst beliebten Motivs der Bajadere (= Tänzerin, aber auch Kurtisane, Prostituierte…), wodurch eine „echte“ Tänzerin von einer Prostituierten unterscheidbar war. Der Leser erfährt außerdem, wie und unter welchen Bedingungen die frühen Photographen auf dem Subkontinent gearbeitet haben & wie die Produkte ihrer Arbeit den Weg nach Europa & Amerika fanden und dort rezipiert wurden.

 Das koloniale Auge ist ein großartiges Photobuch, das die seinen gezeigten Objekten innewohnenden Ambivalenzen souverän zum Thema macht – Rassismus, „völkerkundliche“ Pseudo-Wissenschaft, anthropometrische „Vermessung“…Die Abbildungen sind hervorragend reproduziert, ebenso wie der Text-Teil höchsten Anforderungen an Typographie, Satzspiegel und Layout genügt – schön, daß es Verlage wie diesen gibt, der die Geschichte & Kunst der Welt weiterhin (wo doch allenthalben schon der Grabgesang gedruckter Kulturvermittlung  eingeläutet wird) in bewährter Form (Print & Papier) zugänglich macht – vielen Dank dafür.-

Koehler & Amelang | 2012 | Hardcover | 25 x 31 cm | 206 Seiten | 262 Abbildungen | 9783733803872 | € 39,90