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Emmanuel Carrère: Limonow | **/***

 Wie portraitiert man einen Widerling, oder im Duktus des Autors, einen „Drecksack“? Der französische Schriftsteller & Filmemacher Emmanuel Carrère wählt für sein biographisches Buch über den russischen Autor & Politiker Eduard Limonow (bürgerlich Eduard Sawenko) die Form der literarischen Reportage, angereichert mit biographisch-essayistischen Ansichten über die beschriebenen Zeitläufte im Spannungsfeld von russischem Dissidententum, Kaltem Krieg und Zerfall des Ostblocks 1989ff.

Limonov (*1943) startet seine Karriere als jugendlicher Kleinkrimineller in der ukrainischen Industriestadt Charkow, wo er als avantgardistischer Lyriker erste Kontakte zu den lokalen Samisdat-Zirkeln knüpft. In den 60er Jahren zieht er nach Moskau, wo er als Schneider & Autor Teil des literarisch-politischen Untergrunds und im Konkurrenzkampf mit den „prominenten“ Dissidenten ein randständiges Leben als Rüpel, Radikal-Dissident und Playboy führt. In New York entstehen zwischen 1974 und 1980 etliche Bücher, von denen Fuck Off, Amerika, das 1979 in Frankreich erscheint, der erste internationale literarische Erfolg für Limonov wird. Nach weiteren Exil-Jahren in Frankreich kehrt er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Rußland zurück, wo er als politischer Agitator und Gründer der „Nationalbolschewistischen Partei Rußlands“ aktiv ist. Während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien nimmt Limonow auf Seiten serbischer Milizen an Kampfhandlungen wie der Zerstörung Vukovars & der Belagerung Sarajewos teil und vervollständigt hiermit sein eigenes, nun ja – : Portrait des Arschlochs als alter Sack.-

In der Pressemitteilung schreibt Verleger Andreas Rötzer: „…Carrère sagt heute über ihn [Limonow,BS], er fasziniere ihn noch immer, aber Sympathie hege er keine für ihn.“ Dies kann man nur als vorauseilende Schadensbegrenzung deuten, dem die Besorgnis zugrunde liegt, der Leser könne die ständig im Text aufscheinende „Fasziniertheit“ des Autors vom Gegenstand seiner Betrachtung genau für das halten, was sie zu verbergen vorgibt: nämlich die nicht zu leugnende Bewunderung & Verehrung, die der bourgeoise Intellektuelle Carrère für den Frauenverächter, Waffennarr, todessehnsüchtigen & reaktionären Wirrkopf Limonow hegt. An manchen Stellen spricht er ganz offen vermittels des vereinnahmenden „Wir“ von den gemeinsamen Wurzeln avantgardistischer Intellektualität, die sie beide – trotz trennender Ost-/West-Sozialisation – letztlich verbinde. Irgenwann einmal sitzt sogar Putin mit den Genies Limonow & Carrère im selben Boot – spätestens hier kippt das Märchen in die Groteske.

Stark ist Limonow in der Beschreibung jener Zeiten, in denen es noch Orientierung gab für einen ehemaligen französischen Salon-Linken: so gelingt dem Autor mit der Erzählung von Limonows Kindheit und Jugend, den politisch-kulturellen Verhältnissen in den verschiedenen sowjetischen Dissidenten-Szenen der 60er-Jahre und den russischen Exilanten-Zirkeln in New York & Paris durchaus ein spannendes & gut geschriebenes Stück Doku-Literatur.
Daß Carrère sich im weiteren Verlauf der biographischen Erzählung zunehmend selbst in den Vordergrund rückt und den Lauf der Welt eitel & selbstverliebt beplappert, ist zunächst noch langweilig und redundant, später dann, als die Weltgeschichte ihm sein Werkzeug für die zukünftige politische & gesellschaftliche Beurteilung der Wirklichkeit weggenommen hat – in den Kapiteln über Jelzin, Putin & Jugoslawien – nur noch ärgerlich. Und so kann man am Ende des Buches tatsächlich so etwas wie Geistesverwandtschaft zwischen dem portraitierten Künstler und seinem Biographen feststellen, die sich unweigerlich einstellt, wenn ein Wirrkopf über einen anderen schreibt. Irgendwie, nun ja-: faszinierend.-

Matthes & Seitz | 2012 | Hardcover | 414 Seiten | 9783882219951 | € 24,90

Jaron Lanier: Gadget – Warum die Zukunft uns noch braucht | ****

lanier_gadget1Der Internet-Pionier und Computerwissenschaftler Jaron Lanier wirft in seinem Essay Gadget einen skeptischen Blick auf die Hypes in der aktuellen Netz-Kultur und -Politik. In fünf großen und 14 kleinen Kapiteln  hinterfragt er den tatsächlichen Nutzen, den die zur Zeit bestimmenden Konzepte des modernen Internet – „social web“, „cloud computing“ „open source“ und „Schwarmintelligenz“ – für die Konsumenten & vor allem für die Inhalts-Lieferanten haben. In Abgrenzung zu diesen die Anonymität der Teilnehmer betonenden Konzepten wirbt Lanier für den Wert individueller künstlerischer oder geistiger Tätigkeit, der in der modernen Online-Welt weder gewürdigt noch angemessen vergütet wird, sondern lediglich als Futter für immer ausgefeiltere Algorithmen dient, deren Erfinder die digitale Welt zu einer Plattform für perfekt zugeschnittene Werbung machen wollen. Beispiele aus Wissenschaft, Politik, Finanzwelt und Kultur illustrieren anschaulich, warum das Konzept der „Weisheit der Vielen“ keine Alternative zum altmodisch anmutenden Konzept der „Autorenschaft“ sein kann. Man muß nicht jedem Argument des Autors folgen, um dessen grundsätzliche Kritik nachvollziehen zu können. Lesenswert!

Suhrkamp | 2010 | 247 Seiten | Hardcover | 9783518422069 | € 19,90

Karl Schlögel: Terror und Traum – Moskau 1937 | *****

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Der Slawist und Kulturwisschenschaftler Karl Schlögel unternimmt in diesem Buch den Versuch, die Stadt Moskau zwischen den Jahren von 1936 bis 1938, also dem Zeitraum der stalinistischen Schauprozesse, unter Zuhilfenahme nicht nur linearer, ereignisgeschichtlicher, sondern auch allttags-, sozial- und kulturgeschichtlicher Methoden und Vorgänge zu portraitieren. Schlögel sieht erst in der Betrachtung der Gleichzeitigkeit von politischem Terror einerseits und den urbanen Dynamiken andererseits – also den zeitgleich und am gleichen Ort stattfindenden Ereignissen und Entwicklungen in den Bereichen Architektur und Stadtplanung, Film und Musik, Wissenschaft und Publizistik, Alltagsleben und Existenzsicherung – den Schlüssel zum Verständnis sowohl des politischen Terrors als auch des emanzipatorischen Traums, den die sowjetische Metropole in diesem Zeitraum versinnbildlichte. Die Umsetzung dieser vom Autor als „narrative Gleichzeitigkeit“ bezeichneten Methode ist mehr als gelungen: in drei Dutzend großen und kleinen  Kapiteln führt Schlögel den Leser scharfsinnig und erkenntnisreich durch diesen faszinierenden Stadt- und Zeitraum – ein außergewöhnlich gelungenes Buch, das auch noch glänzend geschrieben ist.

Hanser | 2008 | 811 Seiten | Hardcover | 9783446230811 | € 29,90

Rainald Goetz: loslabern | ****

goetz_loslabernLoslabern ist – nach Klage – der zweite Teil von Rainald Goetz‚ „..fortlaufendem Kommentar der Gegenwart..“ (Iris Radisch) und reiht tagebuchartig lose miteinander verknüpfte Betrachtungen, Traktätchen und Lamentos über das geistige & kulturelle Leben im Allgemeinen und dessen Manifestationen in den Feuilletons der Republik (oder auch auf der Frankfurter Buchmesse ) aneinander: mal launisch-lässig, mal mit verbissenem Furor arbeitet sich Goetz am Kulturbetrieb und dessen Protagonisten ab. Da der Autor ein äußerst selbstbewußter Alles- und Besserwisser ist, steht neben scharfsinnigen und klugen Analysen auch allerlei hanebüchener Unsinn, vor allem, wenn Politik aufs Tapet gebracht wird. Loslabern ist ein Buch für die Fans von polemisch-intelligenter Tendenzliteratur, etwa von Biller oder Broder, und auch die Leser von Thomas Bernhard kommen hier auf ihre Kosten.

Suhrkamp | 2009 | 187 Seiten | Hardcover | 9783518421123 | € 17,80

Hermann Peter Piwitt: Heimat, schöne Fremde | *****

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„Geschichten und Skizzen“ untertitelt der Wallstein – Verlag den neuen Prosaband von Hermann Peter Piwitt, der zur Hälfte unveröffentlichte und neue Texte enthält wie auch verstreut publizierte  – etwa in Konkret, der FR oder der TAZ – von 1975 bis in die Gegenwart. Die Themen dieser manchmal nur wenige Seiten langen Notate reichen von Beobachtungen in Nachbarschaft & Kiez über Reisenotizen aus Italien bis hin zu scharfsinnigen politischen Essays, beispielsweise Das Verschwinden der Ursachen…aus dem Jahr 1982, einer eleganten Polemik gegen die inflationäre Ausbreitung esoterischen Humbugs, der die junge grüne Partei seit ihren Anfängen begleitete. Piwitt ist ein glänzender Stilist, und wir wünschen diesem gelungenen Buch die große Leserschaft, die es verdient.

Wallstein | 2010 | 247 Seiten | Hardcover | 97838306219 | € 19,90

Peter Linebaugh / Marcus Rediker: Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks | *****

linebaugh_hydraDie amerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker beschreiben den Aufstieg des britischen Empire und die Entfaltung des Kapitalismus aus einem radikal anderen Blickwinkel. In der Frühzeit des Kapitalismus, von der Mitte des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, einer Periode, die Karl Marx als „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ definierte, wurden die Grundlagen für den Aufstieg Großbritanniens zur führenden, europäischen Macht gelegt. Der Reichtum einer kleinen, besitzenden Klasse entstand durch Ausbeutung, Gewalt, Terror und Sklaverei. In England wurde ein großer Teil der Landbevölkerung durch Einzäunungen von der Allmende, dem bisherigen Gemeineigentum, ausgeschlossen, in Arbeitshäusern versklavt oder zwangsweise zum Militär und zur Marine gepresst. Das britische Empire ließ Irland, Nordamerika und die Karibik kolonisieren. Sklavenschiffe transportierten hunderttausende Afrikaner in die Karibik und die nordamerikanischen Kolonien, die Ureinwohner Amerikas wurden unterworfen. Die vielköpfige Hydra ist die Geschichte der Unterdrückten und Kolonisierten auf beiden Seiten des Atlantiks, die vielfältige Formen des Widerstandes praktizierten, die teilweise miteinander vernetzt waren und in unzähligen Revolten, Aufständen, aber auch als Piraten die Herrschenden in Angst und Schrecken versetzten und diese von eben jener „vielköpfigen Hydra“ fabulieren ließen, der für jeden abgeschlagenen Kopf zwei neue wachsen. Den Autoren ist ein Meisterwerk einer Geschichtsschreibung der sozialen Bewegungen gelungen, das allgemein verständlich und gut lesbar ist.

Assoziation A | 2008 | Paperback | 427 Seiten | ISBN 9783935936651 | € 28,00 |