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Herman Melville: Bartleby

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»Schluck, der zweite auf meiner Gehaltsliste, war ein fünfundzwanzigjähriger, blasser, backenbärtiger junger Mann von insgesamt eher piratenhaftem Aussehen. Ich sah ihn immer als das Opfer zweier böser Mächte: Ehrgeiz und Verstopfung. Sein Ehrgeiz zeigte sich in einer gewissen Unzufriedenheit mit den Pflichten eines bloßen Kopisten, in anmaßenden Eingriffen in juristische Angelegenheiten wie dem eigenmächtigen Ausfertigen von Rechtsdokumenten im Original. Seine Verdauungsstörungen äußerten sich in einer gelegentlichen nervösen Angespanntheit, einer grimmigen Reizbarkeit, die ihn hörbar mit den Zähnen knirschen ließ, wenn ihm beim Abschreiben ein Fehler unterlaufen war; dazu kamen Flüche und Verwünschungen, mehr gezischelt als gesprochen im Eifer des Gefechts; und insbesondere eine ständige Unzufriedenheit mit der Höhe seines Schreibtisches. Obwohl sich dieser Tisch dank einer genialen Mechanik vielfach verstellen ließ, konnte Schluck nicht seinen Frieden mit ihm machen. Er legte Holzstücke unter, Klötze verschiedenster Art, Pappstückchen und bemühte sich schließlich um perfekte Feinabstimmung mit Schnipseln von gefaltetem Löschpapier. Aber es half alles nichts. Wenn er, um seinen Rücken zu entspannen, die Schreibtischplatte in einem spitzen Winkel bis auf Kinnhöhe aufstellte und darauf schrieb wie jemand, der das steile Dach eines holländischen Hauses als Schreibtisch benutzt, dann klagte er über mangelnde Durchblutung seiner Arme. Wenn er dann den Tisch bis an den Hosenbund absenkte und sich beim Schreiben über ihn beugte, bekam er Rückenschmerzen. Kurz, in Wirklichkeit wußte Schluck nicht, was er wollte. Oder wenn überhaupt, dann wollte er seinen Schreibtisch ganz und gar los sein.« (Seiten 10/11)

[Herman Melville: Bartleby; Merlin Verlag, 2. Aufl. 1999, Deutsch von John und Peter von Düffel, mit 9 Illustrationen von Peter Paone, 21 x 27 cm, HC o. SU, Fadenheftung, 56 Seiten, ISBN: 3926112921]

Anthony Burgess: D. H. Lawrence – Ein Leben in Leidenschaft

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Ich vermute, daß ich nicht der einzige sehr junge Mann gewesen bin, der von ›Lady Chatterley‹ enttäuscht wurde: zu plakativ die Reklame für dieses lange indizierte ›erotische Meisterwerk‹, das erst 1961 ungekürzt erscheinen durfte, im Vergleich zur dort gemachten Beute: meiner mittlerweile verblassten Erinnerung nach gab es dort ein, zwei Stellen, die das Attribut ›erotisch‹ verdienten. Wie viel ergiebiger war dagegen Henry Miller: bei ihm gab es praktisch nur ›Stellen‹, und Paris war auch ein ungleich spannenderer Schauplatz als die englische Provinz.

Wie schön, daß nun dieser Zufallsfund aus dem Antiquariat wieder den Blick auf Lawrence lenkt & die hormongesteuerte Wahrnehmungsstörung eines Siebzehnjährigen in ein anderes Licht rückt. Burgess’ biographischer Essay hält die perfekte Balance zwischen Werk-Analyse und Lebensbildnis; er ist sehr gut geschrieben und übersetzt, und trotz der profunden Gelehrsamkeit des Autors von uneitler Haltung. Integriert in diese Werk- & Lebensbetrachtung ist auch eine kleine Geschichte des englischen Geisteslebens und seiner intellektuellen Zirkel von der Jahrhundertwende bis zum Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Er macht gleichermaßen Lust, den Portraitierten (neu) zu entdecken, als auch den Autor selbst, dessen ›Clockwork Orange‹ die bisher einzige Lektüre war.

Satz und Druck (Clausen & Bosse) dieses Buches sind leider nicht zu rühmen: etliche orthographische Fehler, fehlende & fehlerhafte Interpunktion, schlechte Trennungen, und der Druck ist ungleichmäßig & ausgefranst.

Schwamm drüber: eine wirklich glücklich machende Lektüre!

[Anthony Burgess: D.H. Lawrence – Ein Leben in Leidenschaft; aus dem Englischen von Stefan Weidle, Kellner, 1990, GEB m. SU, Fadenheftung, 300 Seiten, ISBN: 3927623083]

George V. Higgins: Die Freunde von Eddie Coyle | *****

„In einer aufgelassenen Kiesgrube bei Orange, Massachusetts, war ein Trailerpark. Im Dunkeln fuhr Eddie Coyle mit seinem alten Sedan de Ville langsam durch die Reihen der Trailer. Die eckigen Scheinwerfer waren aufgeblendet, die Breitreifen ragten rechts und links über die Ränder des schmalen Asphaltwegs. Vor einem hellblau und gelb gehaltenen Trailer mit schmiedeeisernen Verzierungen und einer mickrig wirkenden Stahltreppe hielt er an. Der Unterbau des Trailers war hinter silbrig glänzendem Stoff verborgen. An den Fenstern hingen Vorhänge, hinter denen Licht schimmerte.“ (S. 110)

Die Story von Die Freunde von Eddie Coyle, des ersten, 1971 erschienen Romans des amerikanischen Juristen & Schriftstellers George V. Higgins (1933 – 1999), der bereits 1973 unter dem Titel Hübscher Abend bis jetzt erstmalig ins Deutsche übersetzt wurde (Hoffmann & Campe; Übersetzer: Ben Witter), ist schnell erzählt: der kleinkriminelle Dieb & Waffenschieber Eddie Coyle glaubt, durch einen scheinbar leichten Deal mit dem Polizisten Dave Foley einer anstehenden Verurteilung zu entgehen. Nachdem er einen seiner Kunden verraten hat, wähnt er sich auf der sicheren Seite. Daß dies ein Irrglaube war, wird schnell klar, nachdem die italienischen Mobster der Bostoner Unterwelt um Jimmy Scalisi sowie der als Polizeispitzel tätige Kneipenbesitzer Dillon ins Spiel kommen: und so gerät, wer seine vermeintlichen Freunde verrät, schnell selbst in die Schußlinie.

Higgins komponiert diese düstere Gangstergeschichte um Verrat und Vergeltung mit eleganter Hand. Seine Beschreibungen des Personals und der Szenerie sind äußerst knapp & treffend, und die Dialoge kann man nicht anders als phantastisch nennen. Dirk van Gunsterens Übersetzung trifft die unterschiedlichen Sprechweisen und den Jargon aufs Genaueste. Großes Lesevergnügen!

George V. Higgins: Die Freunde von Eddie Coyle | Kunstmann | 2014 | aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren | broschiert | 189 Seiten | 9783888979125 | € 14,95

Amir Hassan Cheheltan: Amerikaner töten in Teheran | ****

In sechs eng miteinander verschränkten Episoden erzählt der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Buch Amerikaner töten in Teheran eine kurze Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert und der Ursachen antiamerikanischer Ressentiments. Ausgehend von der Emordung des amerikanischen Botschaftsangehörigen Robert Imbrie, der im Jahr 1924 während einer religiösen Massenzeremonie vom schiitischen Pöbel erschlagen wird, führt der Autor den Leser entlang wichtiger Wegmarken durch die iranische Geschichte: dem 1953 maßgeblich von der CIA vorbereiteten Putsch des Schahs gegen die demokratisch legitimierte Regierung Mossadegh; der Ermordung eines amerikanischen Militärberaters durch Mitglieder einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Jahr 1973; dem Anschlag islamistischer Terroristen auf ein hauptsächlich von Amerikanern besuchtes Restaurant 1978, bei dem der Großneffe von Robert Imbrie ums Leben kommt, bis zu einer Massenhinrichtung durch die Islamisten im Jahr 1988, der auch Resa, ehemaliger Kommunist und Widerstandskämpfer gegen das Schah-Regime, zum Opfer fällt.
Diese „Geschichten der Geschichte“ eines komplexen geo-kulturellen Raumes zwischen religiösem Wahn, den Versuchen zaghafter Modernisierung und imperialer Machtpolitik zwecks Ausbeutung des Ölreichtums sind spannend, sprachlich souverän erzählt und dramaturgisch geschickt kombiniert.

Beck | 2011 | Hardcover | 187 Seiten | 9783406621604 | € 18,95

Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels | ****

Das ländliche Ohio in den 1950er Jahren – : hier möchte man nicht begraben sein. In diesem armen und bigotten Milieu des amerikanischen Mittleren Westens wächst der junge Arvin auf. Sein vom Krieg traumatisierter Vater versucht die krebskranke Mutter durch Gebete und Tieropfer zu heilen, dem auch Arvins Hund zum Opfer fällt. Dann gibt es einen Wanderprediger, der seine eigene Frau ersticht, um Sie von den Toten wieder auferstehen zu lassen. Gleichzeitig gabelt ein Serienmörderpärchen Tramper auf, um sie sadistisch zu töten. Irgendwann läuft ihnen Arvin über den Weg…
Donald Ray Pollock hat mit Das Handwerk des Teufels das düstere Porträt einer Gesellschaft ohne Hoffnung geschrieben, das weit über die Grenzen des konventionellen Kriminalromans hinausgeht.

 Liebeskind | 303 Seiten | Hardcover | Krimi | 9783935890854 | 19,80 €

Robert Olmstead: Der Glanzrappe | **

Als der 14-jährige Robey von seiner Mutter den Auftrag erhält, den im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfenden Vater zurück nach Hause zu holen, schwingt er sich auf ein Pferd und reitet los. Ein Bekannter der Familie überläßt ihm den titelgebenden Glanzrappen, und der Weg zum Vater führt den Heranwachsenden durch die vom Bürgerkrieg verwüsteten, weiten Landschaften der amerikanischen Ebenen. Leichen, Brutaltät & Grausamkeit pflastern seinen Weg, bis er den sterbenden Vater auf dem Schlachtfeld von Gettysburg findet, ebenso wie das junge Mädchen, deren Vergewaltigung er auf dem Weg zu seinem Vater beobachtet hatte. Gemeinsam begeben sie sich auf den mühsamen Heimweg – dort angekommen, rettet Robey der Zwillinge gebärenden Selbstmörderin knapp das Leben. Punkt.

Nach stimmigem Beginn der Story verliert sich Robert Olmstead in langatmigen Episoden, die aneinander gereiht werden wie im Creative-Writing-Seminar ausgedachte Text-Schnipsel, deren verbindener Stil ein raunend-mystischer Sound ist, der von Kritikern mit Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ verglichen worden ist. Das ist mehr als lächerlich: Der Glanzrappe ist der mißlungene Versuch, einen modernen Western zu einem klassischen amerikanischen Thema zu verfassen: sprachlich maniriert, ohne zielführenden Plot und aufgebläht von einer Bildsprache, die besoffen von sich selbst ist.-

dtv | 2011 | Taschenbuch | 260 Seiten | 9783423140324 | € 9,90