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Klaus Barbie, 1984 ff

Klaus Barbie, 1984 ff

Tom Bowers Buch über Klaus Barbie war mein drittes Buch zur Geschichte des Nationalsozialismus (die ersten beiden standen in der elterlichen Bibliothek und waren Anne Franks Tagebuch & Kogons ›Der SS-Staat‹), und die dort geschilderten Menschen und Orte wurden dann 1988 durch Marcel Ophüls’ 4 1/2-stündigen Dokumentarfilm ›Hôtel Terminus‹ erschreckend lebendig.
Bowers Buch erschien ein Jahr, nachdem Barbie in Bolivien verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert worden war, und Ophüls’ Film ein Jahr nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft, in der Barbie 1991 starb. Vorausgegangen der Verhaftung war ein Jahrzehnt erfolgloser Bemühungen, vor allem von Serge & Beate Klarsfeld, Barbie nach dessen Lokalisierung in Bolivien Anfang der 70er Jahre für seine Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, bevor ein mit der Regierung Mitterand organisierter, geheimdiplomatischer Coup zur erfolgreichen Ergreifung Barbies führte. Verteidigt wurde Barbie übrigens von dem bizarren Anwalt Jacques Vergès.

Der Historiker Peter Hammerschmidt hat für sein neues Buch eine Fülle bisher unbekannter oder unzugänglicher Quellen auswerten können, u. a. die Akten des BND zu Klaus Barbie und dessen bis 2012 verschollenen Memoiren.

[Tom Bower: Klaus Barbie. Lyon, Augsburg, La Paz – Karriere eines Gestapo-Chefs; aus dem Englischen von Niels Kadrietzke, Rotbuch, 1984, 286 Seiten, kartoniert, m. 19 Photographien, ISBN: 3880222959]

[Peter Hammerschmidt: Deckname Adler – Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste; S. Fischer, 2014, 555 Seiten, GEB. m. SU, ISBN: 9783100296108, € 24,99]

Elisabeth Filhol: Der Reaktor | ****

Für das reibungslose Funktionieren von Kernkraftwerken benötigt die Atomindustrie Menschen, die unter Einsatz der eigenen Gesundheit, im schlimmsten Fall des eigenen Lebens, dafür sorgen, dass die Anlagen gewartet, gereinigt und repariert werden. Elisabeth Filhol schildert in Der Reaktor mit viel Detailkenntnis die Lebensumstände von französischen Arbeitsnomaden, die von einem Atomkraftwerk zum nächsten unterwegs sind,  in Schnellkursen von Subunternehmen auf ihre Aufgaben vorbereitet werden und bei ihren Arbeiten ständig befürchten müssen, eine zu hohe Strahlendosis abzubekommen, was sie für Monate arbeitslos machen würde. Zwischen ihnen herrscht eine gewisse Solidarität, man trifft sich gelegentlich wieder, übernachtet auf den gleichen Campingplätzen und billigen Hotels. Filhol schafft es, in einer spröden und sachlichen Sprache die verborgene Seite dieser scheinbar sauberen Energie sichtbar zu machen und Mitgefühl für die Menschen zu entwickeln, die – unsichtbar für den Rest der Gesellschaft – die Drecksarbeiten für die Atomkonzerne erledigen. Der Reaktor liefert einen Grund mehr dafür, Atomkraftwerke schleunigst abzuschalten.

Edition Nautilus | 2011| 122 Seiten | Hardcover | Belletristik | 9783894017408 | 16,00 €

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen | *****

lanzman_patagonische Claude Lanzmann, geboren 1925, Journalist und Dokumentarfilmer, Freund von Sartre, Geliebter von Simone de Beauvoir, Herausgeber von Les Temps Modernes, Regisseur von Shoah, erzählt in diesem Buch seine Lebensgeschichte. Der Sohn nach Frankreich emigrierter osteuropäischer Juden muss zusammen mit seiner Familie während der deutschen Besatzung untertauchen. Als Gymnasiast kämpft er in der französischen Resistance. Lanzmann studiert nach dem Krieg Philosophie in Tübingen, lehrt an der Freien Universität Berlin und arbeitet später in Paris als Journalist für verschiedene Zeitschriften. Er engagiert sich gegen die Todesstrafe und für die Unabhängigkeit Algeriens. Sein Lebensthema aber ist das Eintreten für das Existenzrecht Israels als Zufluchtsort der den Holocaust überlebenden Juden und der Versuch, den Zivilisationsbruch der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden zu dokumentieren und zu verstehen. Lanzmann lässt die Pariser Intellektuellenszene der 1950er und 60er Jahre noch einmal lebendig werden und schildert politische und private Diskussionen, kleine und große Abenteuer und Reisen. Manchmal ermüdet das Namedropping ein wenig, denn der Autor ist nicht uneitel. Doch die Beschreibung der jahrelangen Dreharbeiten für den epochemachenden Dokumentarfilm Shoah und der anschließenden Rezeption entschädigt für alles. Mit großem Aufwand recherchiert Lanzmann in Europa, den USA und Israel. Der neunstündige Film kommt ohne eine einzige Archivszene aus. Er besteht nur aus Interviews mit Opfern und auch mit Tätern, was für das Filmteam nicht immer ungefährlich war. So rekonstruiert dieses Meisterwerk minutiös alle Stationen des Holocaust. Der patagonische Hase ist für mich das Buch des Jahres. Es ist ein wichtiger Mosaikstein zum Verständnis des 20. Jahrhunderts.

Rowohlt | 2010 | 681 Seiten | Hardcover | 9783498039394 | 24,95 € |

 

Antony Beevor: D-Day – Die Schlacht um die Normandie | ****

beevor_d-dayDer britische Historiker und Publizist, der bereits zahlreiche, umfangreiche Werke zum zweiten Weltkrieg vorgelegt hat – Spanischer Bürgerkrieg, Schlacht um Stalingrad, Schlacht um Berlin, Luftschlacht um Kreta – schildert in seinem neuen Buch kenntnis- und detailreich die Invasion der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944: von den schwierigen Vorbereitungen unmittelbar vor der Invasion über die für die Alliierten sehr verlustreiche Anlandung und die monatelang sich hinziehenden, schweren Kämpfe in Normandie, Bretagne und Pariser Umland bis zur Vertreibung von SS und Nazi-Wehrmacht aus Paris. Anfängliche Zweifel an Sinn und Zweck derart detaillierter Beschreibung von Kampfhandlungen und strategisch-taktischen Entscheidungen verschwinden rasch bei fortschreitender Lektüre, da der Autor es ausgezeichnet versteht, die komplexen Zusammenhänge hinter den Kampfhandlungen und Entscheidungen anschaulich zu machen.
Die ausführliche Beschreibung alliierter Kriegsverbrechen an der französischen Zivilbevölkerung sorgte im anglo-amerikanischen Sprachraum für allerlei Aufregung. Für hiesige Leser scheint mir der Blick, den der Autor auf die zur Zeit des Stauffenberg-Attentats in der Wehrmachtsführung in Frankreich kämpfenden „Sympathisanten“ des Widerstands wirft, von größerer Bedeutung, denn er zeigt, wie verzagt und feige diese „Widerstandskämpfer“ waren. Statt mutige persönliche Entscheidungen gegen das Hitler-Regime zu treffen – angesichts der nicht mehr zu leugnenden, baldigen Niederlage – , entschieden sie sich für den Kampf  „bis zum letzten Mann“.

C. Bertelsmann | 2010 | 636 Seiten | Hardcover | 9783570100073 | € 28.-

Pino Cacucci: Besser auf das Herz zielen | ****

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Der kleinen Edition Nautilus verdanken wir die deutsche Erstausgabe dieses historischen Doku-Romans über  Leben und Sterben des französischen Anarchisten Jules Bonnot (1876 – 1912). Pino Cacucci, der im deutschen Sprachraum Anfang der 90er Jahre mit der schrillen und temporeichen Road-Novel Puerto Escondido bekannt wurde und auch eine gelobte Biographie über die italienische Künstlerin und Revolutionärin Tina Modotti veröffentlichte, gelingt im vorliegenden Buch ein differenziertes Portrait sowohl des rast- und ruhelosen Lebens des Protagonisten als auch des gesellschaftlichen Umfeldes, in dem sich die damaligen Anarchisten  – als Staatsfeinde von Polizei und Justiz gnadenlos verfolgt – bewegt haben. Sehr gut !

Edition Nautilus | 2010 | 349 Seiten | Hardcover | 9783894017224 | € 19,90

Varian Fry: Auslieferung auf Verlangen. Die Rettung deutscher Emigranten in Marseille 1940/41 | ****

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Der amerikanische Journalist Varian Fry reiste 1940 im Auftrag des New Yorker Emergency Rescue Comittee (ERC) nach Frankreich, um die Rettung von Künstlern, Wissenschaftlern und Intellektuellen vor der Verfolgung durch Nazi – Deutschland zu organisieren. In die unbesetzte Zone Frankreichs hatten sich nach dem Waffenstillstand mit Deutschland 1940 tausende Antifaschisten geflüchtet. Getarnt als humanitäre Hilfsorganisation gelang es Fry und seinen Mitarbeitern unter den Augen des Vichy Regimes und der Gestapo mehr als tausend Menschen mit gefälschten Pässen auf geheimen Routen sicher in die USA zu bringen. Unter den Geretteten waren Heinrich und Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Franz Werfel und viele andere Autoren und Künstler. 1945 erschien Auslieferung auf Verlangen zum ersten Mal in den USA. Jetzt ist dieses spannende und weitgehend unbekannte Stück Zeitgeschichte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder auf deutsch erhältlich.

S. Fischer | 2009 | 345 Seiten | Taschenbuch | 9783596183760 | € 10,95 |