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Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | ****

pollack_kaiser»Wie so viele Auswanderer verläßt auch Mendel Beck im Mai 1888 Galizien in der Hoffnung, der Armut und Rückständigkeit seiner Heimatstadt den Rücken zu kehren – hier sieht er keine Zukunft für sich, egal, wie er sich abmüht, er kommt nicht vom Fleck. In Amerika ist das anders, dort bieten sich jedem zahllose Möglichkeiten, man muß es nur verstehen, die Chancen zu nützen. Mendel ist überzeugt, daß er es schaffen kann, an diese Erwartung klammert er sich wie der Ertrinkende an den Strohhalm.« (Seite 66)

Entlang zahlreicher recherchierter Lebensläufe wie dem des jüdischen Flickschusters Mendel Beck erzählt der gelernte Slawist & Historiker und heute als Journalist & Übersetzer tätige Autor Martin Pollack in seinem Buch Kaiser von Amerika von der knapp 40 Jahre währenden Emigrations-Welle, in der Millionen Osteuropäer seit den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs ihre Heimat verließen, um in anderen Teilen der Welt ihr Glück zu suchen.

Im Mittelpunkt dieses erzählenden, historischen Sachbuchs steht das Armenhaus Österreich-Ungarns, das von Oswiecim (Auschwitz) an der Grenze zu Preußen bis Brody &
Tarnopol nahe der Grenze zu Rußland reichende ›Kronland‹ Galizien. In kunstvoll miteinander verschränkten Kapiteln beschreibt Pollack, warum die in Galizien lebenden Polen, Juden, Russen, Ruthenen (Ukrainer), Ungarn & Slowaken auswanderten, auf welchen Wegen & mit welchen Mitteln sie es taten, und welche Folgen die Emigration hatte – für sie selbst & für die daheim gebliebenen Familienmitglieder.

Der titelgebende ›Kaiser von Amerika‹ beschreibt dabei einen Trick, den zahlreiche ›Agenten‹ (heutiger Sprachgebrauch: Schlepper) der großen Hamburger & Bremer Schifffahrtslinien in Galizien anwandten, um ihre potentiellen & analphabetischen Klienten – verelendete Kleinbauern, Tagelöhner & Handwerker – von den Segnungen des gelobten Landes zu überzeugen: der ›Kaiser von Amerika‹, so ging das Verkaufsgespräch, würde, im Gegensatz zu jenem in Wien (oder in St. Petersburg), seine Untertanen wirklich lieben & habe dort ein Paradies auf Erden geschaffen, in das er ausdrücklich die Juden (Polen, Russen etc.) aus Galizien einlade…

Daß die Einwanderer in den Sweat-Shops der Lower East Side, den Stahlwerken Pennsylvanias & den Sümpfen Brasiliens & Argentiniens (auch dahin gingen zwischenzeitlich kleinere Emigrations-Wellen) kein halbwegs erträgliches Leben, geschweige denn ein Paradies, sondern nur eine neue Hölle auf Erden vorfanden, führte dazu, daß viele in die Heimat zurückkehrten, um von dort manchmal, etwa nach der nächsten Dürre- & Lebensmittelkatastrophe, erneut aufzubrechen: vom Regen in die Jauche – und dahin zurück.

Kaiser von Amerika ist – obwohl  reale & tragische Lebensläufe nacherzählt werden – an keiner Stelle rührselig, wie es sogenannte Erfahrungs-Bücher oft sind: der Autor hält sprachlich die Balance zwischen lebendiger & anteilnehmender Schreibweise, ohne die journalistische Präzision zu vernachlässigen. Obwohl es ein ›Lesebuch‹ ist & keinen ›wissenschaftlichen‹ Anspruch hat, habe ich dennoch folgendes vermißt: ein Quellenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis zum Weiterlesen, und, vor allem, Legenden zu den knapp 20 beigefügten Photographien aus dem Privatarchiv des Autors, die ohne beschreibende Einordnung leider nur atmosphärisches Beiwerk sind, statt den Text zu illustrieren – schade darum.-

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | dtv | 2013 | Paperback | 282 Seiten | ISBN: 9783423142656 | € 9,90

Ivo Andric: Die Brücke über die Drina | *****

Die Brücke über die Drina ist das bekannteste Werk des in Bosnien als Sohn kroatischer Eltern geborenen jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric (1882 – 1975), der 1961 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die hier vorliegende Ausgabe ist eine Bearbeitung der deutschen Erstübersetzung aus den 50er Jahren. Gleichwohl der Verlag dieses Buch als Roman bezeichnet, ist der Untertitel – „Eine Chronik aus Višegrad“ – die bessere Gattungsbeschreibung.

Denn es gibt in Die Brücke über die Drina weder eine Hauptfigur noch ein „Ensemble von Gestalten“ ( Karl Markus Gauß im Nachwort), das einen kontinuierlichen Handlungsablauf bevölkert, sondern eine Vielzahl von Charakteren, deren alltägliche, traurige, bizarre und zuweilen humorvolle Lebensgeschichten Andric über einen Zeitraum von rund 350 Jahren erzählt. Ort der Handlung ist die Kleinstadt Višegrad – in der Andric seine Kindheit verbrachte – in einem Tal der Drina, die Jahrhunderte lang die natürliche Grenze zwischen dem mitteleuropäisch und dem orientalisch geprägten Teil des Balkans war. Die dort im 16. Jahrhundert von einem despotischen Baumeister des damaligen osmanischen Sultans in Istanbul errichtete Brücke ist die eigentliche „Hauptperson“ dieser Chronik: sie allein überdauert die vielfältigen Konflikte zwischen den verfeindeten Volksgruppen und Religionen sowie die wechselseitigen Kriege & Eroberungen der in diesem Teil der Welt um Vorherrschaft ringenden Weltmächte.

Andric‚ elegante Sprache und sein Sinn für Dramaturgie erwecken die von ihm portraitierten Bewohner dieser an der Peripherie der Imperien gelegenen Kleinstadt zu spannender Lebendigkeit: türkische Bauern & Kleinhändler, orthodoxe Popen & Großgrundbesitzer, österreichische Offiziere und jüdische Hoteliers sowie Verrückte, Verlorene & Trunkenbolde jeglicher Couleur & Abstammung bevölkern diese Chronik am Rande der Welt. Noch einmal Karl Markus Gauß im Nachwort über die „Über-Gewichtung“ der „österreichischen“ Jahre (1875 – 1914) gegenüber den 300 Jahren unter osmanischer Herrschaft:

„(…) Das hat unter anderem die bemerkenswerte, jedoch selten bemerkte Folge, daß diese fesselnde jugoslawische Chronik auch ein Werk über die letzten Jahrzehnte der zerfallenden Donaumonarchie ist. Überhaupt sollte ihr Verfasser nicht immer nur im Zusammenhang mit den jugoslawischen Literaturen, sondern auch im Vergleich mit den großen mitteleuropäischen Erzählern seiner Zeit gesehen und gelesen werden (…).“

Meine Mutter hatte Recht: seit 1967 Jugoslawien bereisend, schwärmte sie, so lange ich mich  erinnern kann, für die Bücher von Ivo Andric – ich freue mich auf weitere Lektüre dieses großen Autors.-

Zsolnay | 2011 | Hardcover | 493 Seiten | 9783552055230 | € 25,90

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert | *****

Die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert der in München lehrenden Historikerin Marie-Janine Calic ist der erste Versuch einer Gesamtdarstellung in deutscher Sprache. Neben den ereignisgeschichtlichen Wegmarken beschreibt die Autorin auch ausführlich die sozialen Verhältnisse in den Regionen & Volksgruppen sowie die intellektuellen Debatten, die sie stets im gesamteuropäischen Kontext bewertet. Ihre Kernthese lautet:

…nicht balkannotorische Unverträglichkeit und ewiger Völkerhass unterliefen das Projekt südslawischer Gemeinschaftlichkeit, sondern (…) die Politisierung von Differenz in der modernen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ausgehend von den Anfängen des südslawischen Nationalismus im späten 19. Jahrhunderts schlägt Calic große Bögen zu den epochalen Ereignissen dieses extrem komplexen Staats-Gebildes: von den Balkankriegen 1913/14 und 1914/18 (und dem Untergang der sich bis dahin den Balkan teilenden Imperien nach Ende des ersten Weltkriegs) zum ersten jugoslawischen Staat (1918 – 1941); von dessen Zerfall im von Nazi-Deutschland initiierten Vernichtungskrieg in Südosteuropa und dem damit einhergehenden erfolgreichen Widerstand der von Tito geführten kommunistischen Partisanen-Bewegung zum zweiten Versuch, unter dem Banner von „Brüderlichkeit und Einheit“ und mit den Mitteln sozialistischer und später auch gemäßigt marktwirtschaftlicher Selbstverwaltung die höchst unterschiedlich entwickelten Völker und Regionen in einem auf ethnisch-proportionalen Ausgleich beruhenden Staat zu befrieden; von den Anfängen der Krise dieses auch außenpolitisch erfolgreichen Staates im Rahmen der post-fordistischen, weltweiten Krise der industriellen Produktion in den 70er Jahren, auf die der aufgeblähte Apparat der dezentalisierten, ökonomischen Selbstverwaltung keine andere Antwort fand als die Flucht in astronomische Verschuldung bis zu den nach Titos Tod 1980 beginnenden Versuchen, die nicht zu bewältigende ökonomische Krise in nationalistische & religiöse Erklärungsmuster zu transzendieren; und schließlich die nach dem Ende der „System-Konkurrenz“ sich hemmungslos entfaltenden national & religiös aufgeladenen Egoismen der Regionen & Völker, die unter tatkräftiger Mithilfe europäischer & transatlantischer Hilfe zurechtgebombt wurden in zukünftige EU-Aspiranten & Protektorate zweifelhafter Überlebensfähigkeit.

Trotz sprachlicher Schwächen und gelegentlicher inhaltlicher Widersprüche gelingt Marie-Janine Calic ein beeindruckendes Buch über einen der faszinierendsten Staaten der jüngeren Geschichte. Empfehlung!

Beck | 2010 | Paperback | 415 Seiten | 9783406606465 | € 26,95