Herman Melville: Bartleby

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»Schluck, der zweite auf meiner Gehaltsliste, war ein fünfundzwanzigjähriger, blasser, backenbärtiger junger Mann von insgesamt eher piratenhaftem Aussehen. Ich sah ihn immer als das Opfer zweier böser Mächte: Ehrgeiz und Verstopfung. Sein Ehrgeiz zeigte sich in einer gewissen Unzufriedenheit mit den Pflichten eines bloßen Kopisten, in anmaßenden Eingriffen in juristische Angelegenheiten wie dem eigenmächtigen Ausfertigen von Rechtsdokumenten im Original. Seine Verdauungsstörungen äußerten sich in einer gelegentlichen nervösen Angespanntheit, einer grimmigen Reizbarkeit, die ihn hörbar mit den Zähnen knirschen ließ, wenn ihm beim Abschreiben ein Fehler unterlaufen war; dazu kamen Flüche und Verwünschungen, mehr gezischelt als gesprochen im Eifer des Gefechts; und insbesondere eine ständige Unzufriedenheit mit der Höhe seines Schreibtisches. Obwohl sich dieser Tisch dank einer genialen Mechanik vielfach verstellen ließ, konnte Schluck nicht seinen Frieden mit ihm machen. Er legte Holzstücke unter, Klötze verschiedenster Art, Pappstückchen und bemühte sich schließlich um perfekte Feinabstimmung mit Schnipseln von gefaltetem Löschpapier. Aber es half alles nichts. Wenn er, um seinen Rücken zu entspannen, die Schreibtischplatte in einem spitzen Winkel bis auf Kinnhöhe aufstellte und darauf schrieb wie jemand, der das steile Dach eines holländischen Hauses als Schreibtisch benutzt, dann klagte er über mangelnde Durchblutung seiner Arme. Wenn er dann den Tisch bis an den Hosenbund absenkte und sich beim Schreiben über ihn beugte, bekam er Rückenschmerzen. Kurz, in Wirklichkeit wußte Schluck nicht, was er wollte. Oder wenn überhaupt, dann wollte er seinen Schreibtisch ganz und gar los sein.« (Seiten 10/11)

[Herman Melville: Bartleby; Merlin Verlag, 2. Aufl. 1999, Deutsch von John und Peter von Düffel, mit 9 Illustrationen von Peter Paone, 21 x 27 cm, HC o. SU, Fadenheftung, 56 Seiten, ISBN: 3926112921]