Schlagwort-Archive: Nationalsozialismus

Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen | *****

lanzman_patagonische Claude Lanzmann, geboren 1925, Journalist und Dokumentarfilmer, Freund von Sartre, Geliebter von Simone de Beauvoir, Herausgeber von Les Temps Modernes, Regisseur von Shoah, erzählt in diesem Buch seine Lebensgeschichte. Der Sohn nach Frankreich emigrierter osteuropäischer Juden muss zusammen mit seiner Familie während der deutschen Besatzung untertauchen. Als Gymnasiast kämpft er in der französischen Resistance. Lanzmann studiert nach dem Krieg Philosophie in Tübingen, lehrt an der Freien Universität Berlin und arbeitet später in Paris als Journalist für verschiedene Zeitschriften. Er engagiert sich gegen die Todesstrafe und für die Unabhängigkeit Algeriens. Sein Lebensthema aber ist das Eintreten für das Existenzrecht Israels als Zufluchtsort der den Holocaust überlebenden Juden und der Versuch, den Zivilisationsbruch der Vernichtung von sechs Millionen europäischer Juden zu dokumentieren und zu verstehen. Lanzmann lässt die Pariser Intellektuellenszene der 1950er und 60er Jahre noch einmal lebendig werden und schildert politische und private Diskussionen, kleine und große Abenteuer und Reisen. Manchmal ermüdet das Namedropping ein wenig, denn der Autor ist nicht uneitel. Doch die Beschreibung der jahrelangen Dreharbeiten für den epochemachenden Dokumentarfilm Shoah und der anschließenden Rezeption entschädigt für alles. Mit großem Aufwand recherchiert Lanzmann in Europa, den USA und Israel. Der neunstündige Film kommt ohne eine einzige Archivszene aus. Er besteht nur aus Interviews mit Opfern und auch mit Tätern, was für das Filmteam nicht immer ungefährlich war. So rekonstruiert dieses Meisterwerk minutiös alle Stationen des Holocaust. Der patagonische Hase ist für mich das Buch des Jahres. Es ist ein wichtiger Mosaikstein zum Verständnis des 20. Jahrhunderts.

Rowohlt | 2010 | 681 Seiten | Hardcover | 9783498039394 | 24,95 € |

 

Antony Beevor: D-Day – Die Schlacht um die Normandie | ****

beevor_d-dayDer britische Historiker und Publizist, der bereits zahlreiche, umfangreiche Werke zum zweiten Weltkrieg vorgelegt hat – Spanischer Bürgerkrieg, Schlacht um Stalingrad, Schlacht um Berlin, Luftschlacht um Kreta – schildert in seinem neuen Buch kenntnis- und detailreich die Invasion der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944: von den schwierigen Vorbereitungen unmittelbar vor der Invasion über die für die Alliierten sehr verlustreiche Anlandung und die monatelang sich hinziehenden, schweren Kämpfe in Normandie, Bretagne und Pariser Umland bis zur Vertreibung von SS und Nazi-Wehrmacht aus Paris. Anfängliche Zweifel an Sinn und Zweck derart detaillierter Beschreibung von Kampfhandlungen und strategisch-taktischen Entscheidungen verschwinden rasch bei fortschreitender Lektüre, da der Autor es ausgezeichnet versteht, die komplexen Zusammenhänge hinter den Kampfhandlungen und Entscheidungen anschaulich zu machen.
Die ausführliche Beschreibung alliierter Kriegsverbrechen an der französischen Zivilbevölkerung sorgte im anglo-amerikanischen Sprachraum für allerlei Aufregung. Für hiesige Leser scheint mir der Blick, den der Autor auf die zur Zeit des Stauffenberg-Attentats in der Wehrmachtsführung in Frankreich kämpfenden „Sympathisanten“ des Widerstands wirft, von größerer Bedeutung, denn er zeigt, wie verzagt und feige diese „Widerstandskämpfer“ waren. Statt mutige persönliche Entscheidungen gegen das Hitler-Regime zu treffen – angesichts der nicht mehr zu leugnenden, baldigen Niederlage – , entschieden sie sich für den Kampf  „bis zum letzten Mann“.

C. Bertelsmann | 2010 | 636 Seiten | Hardcover | 9783570100073 | € 28.-

Hugo Claus: Der Kummer von Belgien | ****

claus_kummerEs gibt Bücher, die enthalten die ganze Welt – dieses gehört dazu. Hugo Claus hat mit dem kleinen Louis Seynave aus der fiktiven flämischen Kleinstadt Walle einen Helden geschaffen, den wir immer im Gedächtnis behalten werden. Louis ist Spross einer Familie flämischer Nationalisten, die im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kollaborierten. Trotzdem entwickeln wir eine gewisse Sympathie mit den verschrobenen Charakteren der verzweigten Familie der Seynaves, einer Vielzahl von Onkeln und Tanten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Schnell sind wir mit dem Mikrokosmos von Walle vertraut, mit seinen engen Gassen und dem Groote Markt und erleben Aufstieg und Fall einer Familie. Das Hauptwerk des 2008 verstorbenen Autors ist nicht nur ein Entwicklungsroman, sondern das Zeugnis einer Epoche. Unbedingt lesenswert !

Klett Cotta | 2008 | 824 Seiten | Hardcover | 9783608936001 | € 24,90 |

Erich Hackl: Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte | ****

hackl_salzmann1So hat es sich zugetragen: In den 1990er Jahren tritt der 24jährige Hanno Salzmann eine Stelle bei der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse an. Leider vertraut er einem Kollegen und spricht folgenden Satz aus: “Meine Oma ist in einem KZ umgekommen.“ Das hätte er nicht sagen sollen in Österreich gegen Ende des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von dieser Begebenheit berichtet Erich Hackl von drei Generationen der Familie Salzmann: deutsche und österreichische Kommunisten, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv waren, die aber auch in den Nachfolgestaaten Nazideutschlands ihre Heimat nicht fanden. Hackl erzählt sachlich und nüchtern von den Beschädigungen und Spuren, die das Leben bei jenen hinterlässt, die sich nicht anpassen und liefert ein Lehrstück über Antisemitismus, der noch immer in der Mitte unserer Gesellschaft seinen Ursprung hat.

Diogenes Verlag | 2010 | 186 Seiten | Hardcover | 9783257067583| €19,90 |

Carl-Johan Vallgren: Kunzelmann & Kunzelmann | ****

vallgren_kunzelmannAls der renommierte Kunst-Restaurator Victor Kunzelmann in Stockholm stirbt, hinterlässt er seinem Sohn Joakim eine Werkstatt mit zerstörten Bildern und etliche offene Fragen. Daraufhin begibt sich Joakim auf die Suche nach der Vergangenheit seines Vaters, dessen berufliches Leben als Lehrling eines Kunstmalers im Berlin der Dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts seinen Anfang nimmt. Fälschungen von Autogrammen der Nazi-Prominenz folgen, ebenso wie erste Fälschungen berühmter Gemälde und, nach Inhaftierung, das streng geheime Fälschen britischer Pfundnoten für die Nazis. In der Nachkriegszeit schließlich perfektioniert Viktor Kunzelmann sein Doppelleben als genialer Fälscher und gleichzeitig berühmter Experte zur Aufdeckung von Kunstfälschungen. Carl-Johan Vallgrens zweiter ins Deutsche übertragene Roman überzeugt als intelligenter Familienroman ebenso wie als Entwicklungsgeschichte einer besonderen Persönlichkeit.

Insel | 2009 | 611 Seiten | Hardcover | 9783458174608 | € 24,80

Witold Bereś/Krzysztof Burnetko: Marek Edelmann erzählt | *****

beres_edelman6Der erst vor wenigen Monaten neunzigjährig verstorbene Marek Edelman war einer der wenigen Überlebenden des Warschauer Ghettos und einer der militärischen Kommandanten der Jüdischen Kampforganisation (ZOB), die maßgeblich am Aufstand im Warschauer Ghetto beteiligt war. Nach der Flucht aus dem Ghetto beteiligte er sich am Partisanenkampf in den Wäldern um Warschau und am Warschauer Aufstand. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitet Edelman als Kardiologe und wirkt jahrzehntelang als Mitglied der demokratischen Opposition in Polen; 1980 ist er Mitgründer der Solidarnosz, deren links-sozialdemokratischem Flügel er sich Zeit seines Lebens verbunden fühlt.
In einer Mischung aus direkten und indirekten Interviews sowie zahlreichen Zitaten aus  Büchern, Reden und sonstigen Schriften Edelmans und zahlreicher Zeitzeugen kompilieren die polnischen Journalisten Witold Bereś und Krzysztof Burnetko ein vielschichtiges biographisches Portrait dieser beeindruckenden Persönlichkeit unter besonderer Berücksichtigung der Ereignisse im Ghetto – großartig!

Parthas | 2009 | 687 Seiten | Hardcover | 9783869640129 | € 24.-