Archiv der Kategorie: Notizen

Ivo Andric: Die Brücke über die Drina | *****

Die Brücke über die Drina ist das bekannteste Werk des in Bosnien als Sohn kroatischer Eltern geborenen jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andric (1882 – 1975), der 1961 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Die hier vorliegende Ausgabe ist eine Bearbeitung der deutschen Erstübersetzung aus den 50er Jahren. Gleichwohl der Verlag dieses Buch als Roman bezeichnet, ist der Untertitel – „Eine Chronik aus Višegrad“ – die bessere Gattungsbeschreibung.

Denn es gibt in Die Brücke über die Drina weder eine Hauptfigur noch ein „Ensemble von Gestalten“ ( Karl Markus Gauß im Nachwort), das einen kontinuierlichen Handlungsablauf bevölkert, sondern eine Vielzahl von Charakteren, deren alltägliche, traurige, bizarre und zuweilen humorvolle Lebensgeschichten Andric über einen Zeitraum von rund 350 Jahren erzählt. Ort der Handlung ist die Kleinstadt Višegrad – in der Andric seine Kindheit verbrachte – in einem Tal der Drina, die Jahrhunderte lang die natürliche Grenze zwischen dem mitteleuropäisch und dem orientalisch geprägten Teil des Balkans war. Die dort im 16. Jahrhundert von einem despotischen Baumeister des damaligen osmanischen Sultans in Istanbul errichtete Brücke ist die eigentliche „Hauptperson“ dieser Chronik: sie allein überdauert die vielfältigen Konflikte zwischen den verfeindeten Volksgruppen und Religionen sowie die wechselseitigen Kriege & Eroberungen der in diesem Teil der Welt um Vorherrschaft ringenden Weltmächte.

Andric‚ elegante Sprache und sein Sinn für Dramaturgie erwecken die von ihm portraitierten Bewohner dieser an der Peripherie der Imperien gelegenen Kleinstadt zu spannender Lebendigkeit: türkische Bauern & Kleinhändler, orthodoxe Popen & Großgrundbesitzer, österreichische Offiziere und jüdische Hoteliers sowie Verrückte, Verlorene & Trunkenbolde jeglicher Couleur & Abstammung bevölkern diese Chronik am Rande der Welt. Noch einmal Karl Markus Gauß im Nachwort über die „Über-Gewichtung“ der „österreichischen“ Jahre (1875 – 1914) gegenüber den 300 Jahren unter osmanischer Herrschaft:

„(…) Das hat unter anderem die bemerkenswerte, jedoch selten bemerkte Folge, daß diese fesselnde jugoslawische Chronik auch ein Werk über die letzten Jahrzehnte der zerfallenden Donaumonarchie ist. Überhaupt sollte ihr Verfasser nicht immer nur im Zusammenhang mit den jugoslawischen Literaturen, sondern auch im Vergleich mit den großen mitteleuropäischen Erzählern seiner Zeit gesehen und gelesen werden (…).“

Meine Mutter hatte Recht: seit 1967 Jugoslawien bereisend, schwärmte sie, so lange ich mich  erinnern kann, für die Bücher von Ivo Andric – ich freue mich auf weitere Lektüre dieses großen Autors.-

Zsolnay | 2011 | Hardcover | 493 Seiten | 9783552055230 | € 25,90

Mauro Corona: Im Tal des Vajont | *****

Im Jahr 2003 bekommt der Erzähler Besuch von einem merkwürdigen Mann. Dieser überreicht ihm einen Metallzylinder mit einem großen schwarzen Heft, in dem ein gewisser Severino Corona, vielleicht ein Verwandter von ihm, seine Lebensgeschichte aufgeschrieben hat. Severino, genannt Zino wird 1879 geboren. Er wächst in einem Bergdorf im Friaul, in den italienischen Alpen, als Waise bei Verwandten auf. Sein Vater ist von Unbekannten ermordet worden, seine Mutter stirbt kurz darauf. Sein bester Freund wird der junge Raggio, mit dem er später eine Käserei aufmacht. Doch aus der engen Freundschaft entwickelt sich eine Todfeindschaft, als Zino von Raggios Frau verführt wird. Mauro Corona gibt uns mit seinem großartigen Roman Im Tal des Vajont einen Einblick in das archaische Leben in der Bergwelt der Alpen zu Beginn der Moderne. Mit großer erzählerischer Kraft schildert er ein schier auswegloses Drama, in dem alle Beteiligten Getriebene sind und in dem es keinen anderen Ausweg als den Tod zu geben scheint.

Graf | 2012 | 303 Seiten | Hardcover | 9783862200245 | 18,00 €

Derenthal / Gadebusch / Specht: Das koloniale Auge – Frühe Portrait-Fotografie in Indien | *****

Die Ausstellung und der zugehörige Katalog Das koloniale Auge – Frühe Portraitfotographie in Indien sind ein Projekt dreier staatlicher Berliner Museen (Ethnologisches Museum, Museum für asiatische Kunst, Kunstbibliothek / Museum für Fotografie), das unter der Schirmherrschaft der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und unter der Mitarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen (Ethnologen, Asienwissenschaftlern sowie Kunst- und Photo-Historikern) ein erst kürzlich wieder aufgetauchtes und bisher noch nicht bearbeitetes Konvolut aus rund 300 Vintage-Abzügen aus dem Ethnologischen Museum – von denen 250 im Katalog gezeigt werden – zum ersten Mal öffentlich präsentiert. Zur Namensgebung schreibt Raffael Dedo Gadebusch, einer der Kuratoren und Herausgeber des Katalogs:

Das „Auge“ der Kamera, die Augen hinter der Kamera und vielleicht auch die Augen vor der Kamera in der Ära des Kolonialismus – all das impliziert der mehrdeutige Titel der Ausstellung sowie der gleichnamigen Publikation (…).

Begleitet wird der thematisch geordnete Tafelteil, der rund 250 Abbildungen aus den nicht immer unterscheidbaren Gattungsbereichen der Portrait-, Typen- und Genrefotografie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt (Ureinwohner, Adel, Jagdtrophäen, Jenseits des Adels, Tanz und Unterhaltung, Kasten und Berufe, Anthropometrie, Sadhus) von sechs kenntnisreichen Essays, die die Entstehung & Ausprägungen der Portraitfotografie in Südasien (Britisch Indien, Ceylon) aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.

So beschreibt R. D. Gadebusch in seinem Aufsatz Echtes oder inszeniertes Indien, warum die photographische Inszenierung in den indischen Foto-Studios den damaligen Seh-Gewohnheiten der Mitteleuropäer geschuldet war und die frühe Photographie dort – wie generell in dieser Zeit – eine starke Nähe zur Malerei hatte; John Falconer beleuchtet in Ethnografische Fotografie in Indien den Zusammenhang zwischen der rasant sich entwickelnden neuen Technologie der Photographie und der Entstehung der Ethnologie als Wissenschaft, und Joachim K. Bautze erläutert am Beispiel des äußerst beliebten Motivs der Bajadere (= Tänzerin, aber auch Kurtisane, Prostituierte…), wodurch eine „echte“ Tänzerin von einer Prostituierten unterscheidbar war. Der Leser erfährt außerdem, wie und unter welchen Bedingungen die frühen Photographen auf dem Subkontinent gearbeitet haben & wie die Produkte ihrer Arbeit den Weg nach Europa & Amerika fanden und dort rezipiert wurden.

 Das koloniale Auge ist ein großartiges Photobuch, das die seinen gezeigten Objekten innewohnenden Ambivalenzen souverän zum Thema macht – Rassismus, „völkerkundliche“ Pseudo-Wissenschaft, anthropometrische „Vermessung“…Die Abbildungen sind hervorragend reproduziert, ebenso wie der Text-Teil höchsten Anforderungen an Typographie, Satzspiegel und Layout genügt – schön, daß es Verlage wie diesen gibt, der die Geschichte & Kunst der Welt weiterhin (wo doch allenthalben schon der Grabgesang gedruckter Kulturvermittlung  eingeläutet wird) in bewährter Form (Print & Papier) zugänglich macht – vielen Dank dafür.-

Koehler & Amelang | 2012 | Hardcover | 25 x 31 cm | 206 Seiten | 262 Abbildungen | 9783733803872 | € 39,90

Josef Bierbichler: Mittelreich | *****

Wenn Schauspieler Romane schreiben, bin ich erst einmal vorsichtig, da sich ein guter Erzähler doch in vielem von einem guten Darsteller unterscheidet. Diese Bedenken sind jedoch bei diesem außergewöhnlichen Roman von Josef Bierbichler, der uns als Theater- und Filmschauspieler aus vielen Filmen und Stücken bekannt ist, völlig fehl am Platz. Bierbichler erzählt die Geschichte einer bayerischen Seewirtschaft über drei Generationen von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Die Betreiber dieses Wirtshauses am Starnberger See mit angeschlossener Landwirtschaft sind weder arm noch wirklich reich, sondern nur mittelreich, Kleinbürger also, die sich von den aufsässigen Arbeitern in den Städten bedroht fühlen, aber auch nicht zu den „feinen Leuten“ gehören, die zwar von ihnen bewundert werden, doch als „Obrigkeit“ gefürchtet sind. Die Katholische Kirche dominiert die kleine Welt mit dem ganzen Spektrum ihres Wirkens: von den Tröstungen im Alltag bis zum sexuellen Missbrauch im Internat.Bei der Machtübernahme der Nazis 1933 sind die Leute froh, dass wieder Ruhe im Land herrscht, die Juden mögen sie sowieso nicht – da hat der Jahrhunderte alte Volks–Antisemitismus der katholischen Kirche seine volle Kraft entfaltet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist man mit anderen Dingen beschäftigt, man schaut nach vorn aufs Wirtschaftswunder und nicht zu den unschönen Ereignissen der Vergangenheit.Josef Bierbichler hat eine Vielzahl von stimmigen und authentischen Charakteren in seinem Roman untergebracht. Er hat souverän alle Handlungsstränge im Griff und erzählt uns all die kleinen Geschichten in der großen Geschichte. Große Literatur.

Suhrkamp | 2011 | 392 Seiten | Hardcover | Belletristik | 9783518422687 | 22,90 €

Amir Hassan Cheheltan: Amerikaner töten in Teheran | ****

In sechs eng miteinander verschränkten Episoden erzählt der iranische Autor Amir Hassan Cheheltan in seinem neuen Buch Amerikaner töten in Teheran eine kurze Geschichte des Iran im 20. Jahrhundert und der Ursachen antiamerikanischer Ressentiments. Ausgehend von der Emordung des amerikanischen Botschaftsangehörigen Robert Imbrie, der im Jahr 1924 während einer religiösen Massenzeremonie vom schiitischen Pöbel erschlagen wird, führt der Autor den Leser entlang wichtiger Wegmarken durch die iranische Geschichte: dem 1953 maßgeblich von der CIA vorbereiteten Putsch des Schahs gegen die demokratisch legitimierte Regierung Mossadegh; der Ermordung eines amerikanischen Militärberaters durch Mitglieder einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Jahr 1973; dem Anschlag islamistischer Terroristen auf ein hauptsächlich von Amerikanern besuchtes Restaurant 1978, bei dem der Großneffe von Robert Imbrie ums Leben kommt, bis zu einer Massenhinrichtung durch die Islamisten im Jahr 1988, der auch Resa, ehemaliger Kommunist und Widerstandskämpfer gegen das Schah-Regime, zum Opfer fällt.
Diese „Geschichten der Geschichte“ eines komplexen geo-kulturellen Raumes zwischen religiösem Wahn, den Versuchen zaghafter Modernisierung und imperialer Machtpolitik zwecks Ausbeutung des Ölreichtums sind spannend, sprachlich souverän erzählt und dramaturgisch geschickt kombiniert.

Beck | 2011 | Hardcover | 187 Seiten | 9783406621604 | € 18,95

Donald Ray Pollock: Das Handwerk des Teufels | ****

Das ländliche Ohio in den 1950er Jahren – : hier möchte man nicht begraben sein. In diesem armen und bigotten Milieu des amerikanischen Mittleren Westens wächst der junge Arvin auf. Sein vom Krieg traumatisierter Vater versucht die krebskranke Mutter durch Gebete und Tieropfer zu heilen, dem auch Arvins Hund zum Opfer fällt. Dann gibt es einen Wanderprediger, der seine eigene Frau ersticht, um Sie von den Toten wieder auferstehen zu lassen. Gleichzeitig gabelt ein Serienmörderpärchen Tramper auf, um sie sadistisch zu töten. Irgendwann läuft ihnen Arvin über den Weg…
Donald Ray Pollock hat mit Das Handwerk des Teufels das düstere Porträt einer Gesellschaft ohne Hoffnung geschrieben, das weit über die Grenzen des konventionellen Kriminalromans hinausgeht.

 Liebeskind | 303 Seiten | Hardcover | Krimi | 9783935890854 | 19,80 €