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Beqë Cufaj: projekt@party | *****

Es wird viel getrunken und gefeiert in der Einheit „Bildung und Erziehungswesen“ der UN-Mission im Kosovo: meistens im „Tricky Dick“, aber auch bei „Antonella“, wo die UN-Mitarbeiter einträchtig neben den Mafia-Bossen der Hauptstadt Pristina sitzen und sich an den besten Antipasti der Stadt erfreuen. Danach geht es dann zu Karaoke und Live-Musik in die „JazzBar“ oder die „SansiBar“, wo die aus aller Welt bunt zusammengewürfelte Friedens-Truppe von Einheimischen schon mal mit Flaschen beworfen wird, weil sie wieder gegen eine der zahlreichen, unbekannten Verhaltensregeln verstoßen hat…

Der Leiter dieser UN-Einheit und namenlose Protagonist von projekt@party, des zweiten in deutscher Sprache erschienen Romans des kosovo-albanischen Autors Beqë Cufaj, ist ein deutscher Professor: nach persönlichen Schicksalsschlägen und einem zunehmend als sinnfrei & langweilig empfundenen akademisch-bürgerlichen Leben entschließt er sich, endlich einmal etwas „…für die Menschheit zu tun.“

Der Versuch, das kosovarische Bildungs-& Erziehungssystem nach den Zerstörungen des Krieges wiederaufzubauen, scheitert kläglich: an der gigantischen Bürokratie des UN-Apparates, an der kaum zu überbrückenden, kulturellen Fremdheit zwischen den „Missionaren“ und den Einheimischen, an sprachlichen & sonstigen Mißverständnissen, und nicht zuletzt an banalen, menschlichen Schwächen wie Gier, Egoismus und Gleichgültigkeit. Und so bleibt am Ende als größter Erfolg die Bezahlung der Lehrer und die winterliche Versorgung der Schulen mit Brennholz…

In einer gelungenen Mischung aus Doku-Fiction & Realsatire läßt Cufaj seinen hilflosen Helden & dessen Kollegen durch ein unbekanntes Land stolpern: von sinnlosen Gruppen-Meetings zu misslungenen Pressekonferenzen, von vergeblichen Mediationen zwischen verfeindeten, kosovarischen Schulrektoren bis zur qualvoll-abstrusen Organisation der eigenen Ineffizienz. Das liest sich ausgesprochen flott und ist sehr amüsant, wobei dem Leser an mancher Stelle das Lachen im Hals stecken bleibt – letztlich ist projekt@party eine Tragik-Komödie über das Scheitern globaler Menschheitsträume in den Mühen der Ebenen. Starke Empfehlung!

secession | 2012 | Hardcover | 142 Seiten | 9783905951172 | € 19,95

Marie-Janine Calic: Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert | *****

Die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert der in München lehrenden Historikerin Marie-Janine Calic ist der erste Versuch einer Gesamtdarstellung in deutscher Sprache. Neben den ereignisgeschichtlichen Wegmarken beschreibt die Autorin auch ausführlich die sozialen Verhältnisse in den Regionen & Volksgruppen sowie die intellektuellen Debatten, die sie stets im gesamteuropäischen Kontext bewertet. Ihre Kernthese lautet:

…nicht balkannotorische Unverträglichkeit und ewiger Völkerhass unterliefen das Projekt südslawischer Gemeinschaftlichkeit, sondern (…) die Politisierung von Differenz in der modernen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Ausgehend von den Anfängen des südslawischen Nationalismus im späten 19. Jahrhunderts schlägt Calic große Bögen zu den epochalen Ereignissen dieses extrem komplexen Staats-Gebildes: von den Balkankriegen 1913/14 und 1914/18 (und dem Untergang der sich bis dahin den Balkan teilenden Imperien nach Ende des ersten Weltkriegs) zum ersten jugoslawischen Staat (1918 – 1941); von dessen Zerfall im von Nazi-Deutschland initiierten Vernichtungskrieg in Südosteuropa und dem damit einhergehenden erfolgreichen Widerstand der von Tito geführten kommunistischen Partisanen-Bewegung zum zweiten Versuch, unter dem Banner von „Brüderlichkeit und Einheit“ und mit den Mitteln sozialistischer und später auch gemäßigt marktwirtschaftlicher Selbstverwaltung die höchst unterschiedlich entwickelten Völker und Regionen in einem auf ethnisch-proportionalen Ausgleich beruhenden Staat zu befrieden; von den Anfängen der Krise dieses auch außenpolitisch erfolgreichen Staates im Rahmen der post-fordistischen, weltweiten Krise der industriellen Produktion in den 70er Jahren, auf die der aufgeblähte Apparat der dezentalisierten, ökonomischen Selbstverwaltung keine andere Antwort fand als die Flucht in astronomische Verschuldung bis zu den nach Titos Tod 1980 beginnenden Versuchen, die nicht zu bewältigende ökonomische Krise in nationalistische & religiöse Erklärungsmuster zu transzendieren; und schließlich die nach dem Ende der „System-Konkurrenz“ sich hemmungslos entfaltenden national & religiös aufgeladenen Egoismen der Regionen & Völker, die unter tatkräftiger Mithilfe europäischer & transatlantischer Hilfe zurechtgebombt wurden in zukünftige EU-Aspiranten & Protektorate zweifelhafter Überlebensfähigkeit.

Trotz sprachlicher Schwächen und gelegentlicher inhaltlicher Widersprüche gelingt Marie-Janine Calic ein beeindruckendes Buch über einen der faszinierendsten Staaten der jüngeren Geschichte. Empfehlung!

Beck | 2010 | Paperback | 415 Seiten | 9783406606465 | € 26,95