Herbert Huncke: Bickford’s Cafeteria

Foto 13.12.14 13 11 18»Sie sprechen von Goldkiefern, und ich werde zurückversetzt, weit in die Vergangenheit, und es ist Spätsommer außerhalb von Potlatch, Idaho. Die Sonne geht unter – der Himmel in Fetzen gerissen – safrangelb – eisgrün – lavendel und verschiedene Rosatöne von flamingo bis zum blassesten Pastell – überlagert von bedrohlich schwarzen Wolkenformationen. Die Straße ist aus gelber Erde und festgepreßtem Sand und einer Schicht grober, weißer Kieselsteine. Sie windet sich durch einen Komplex grauer Schindelhäuser – vorbei an Bahnschienen und einem Zug flacher Waggons, die mit frisch gefällten, massiven Baumstämmen beladen sind. Sie kommen aus den umliegenden Wäldern, die sich meilenweit über die Hügel erstrecken – zu groß für das Sägewerk, einem angestrichenen Gebäude aus Rotholz am Ortsrand, wo viele Leute aus der Stadt arbeiten – die anderen sind meistens in den Wäldern beschäftigt – sie sägen und hacken und fällen und schleppen die großen, majestätischen Bäume weg – die Landschaft durchzogen vom Hall ihres qualvollen Niederkrachens, einem dumpfen Todesaufprall – und wir sitzen in einem offenen Modell-T-Ford und fahren am Sägewerk vorbei – der Gemischtwarenhandlung – einer Bierpinte – wo ich mich früher – vor der Zeit, über die ich gerade berichte – oft betrunken habe – überschäumende Krüge eiskalten Biers runterkippte, die von einer dunkelhaarigen Kellnerin an den Tisch gebracht wurden – die Kneipensitten einer Holzfällerstadt waren ihr geläufig – sie konnte lachen darüber und pausenlos scherzen mit den rotgesichtigen, stämmigen Holzfällern – die immer noch ihre festen, imprägnierten Stiefel anhatten. Einmal sah ich zu, wie zwei von ihnen sich schlugen. Als der eine bereits zu Boden gegangen war, trat der andere ihm wütend ins Gesicht, solange, bis es einem blutigen Klumpen Fleisch glich – bis man ihm endlich zu Hilfe kam – und rot-schwarz, grün-schwarz, orange-schwarz und blau-schwarz karierte Hemden und alles andere habe ich wieder vor Augen, als die letzten Häuser an der Straße vorbeiziehen und der Abend blau-schwarz hereinbricht, ausstaffiert mit Abertausenden Lichtern aus weit entfernten kosmischen Welten, Sternen und Planeten.«
(›Im Goldkiefernland‹, Seite 92/93)

[Herbert Huncke: Bickford’s Cafeteria, metro Verlag, 1990, aus dem Amerikanischen übertragen von Tamara Domentat & mit einem Vorwort von Allen Ginsberg, 281 Seiten, Broschur, ISBN: 392828200X]

Chargesheimer, reloaded / 1

Chargesheimer, reloaded

Wir haben einen solchen Photoband noch nie gesehen. Er trifft uns, wie eine reine Wahrheit uns trifft.
(DIE WELT, 1958, anläßlich des Erscheinens von ‚Unter Krahnenbäumen‘)

#2 & #3: [Chargesheimer – Photographien 1949-1970; herausgegeben & mit einem Vorwort von Reinhold Mißelbeck / Museum Ludwig; Kiepenheuer & Witsch, 1970, 199 Seiten, Umschlag: Hannes Jähn, Repro: Litho Köcher / Produktion Pütz]

#4: [Chargesheimer / Heinrich Böll: Unter Krahnenbäumen – Bilder aus einer Straße; Schaden Verlag, 1998, o. Pag., 78 Tafeln, Faksimile der 1958 im Greven Verlag erschienenen Originalausgabe; herausgegeben, gestaltet, hergestellt & mit einem Nachwort versehen von Eusebius Wirdeier, ISBN: 3932187024]

#5: [Bodo von Drewitz / Museum Ludwig (Hg.): Chargesheimer 1924-1971 – Ein Bohemien aus Köln; Greven Verlag, 2007, Umschlag: Thomas Neuhaus; mit Beiträgen von Kasper König, Bodo v. Drewitz, Eberhard Illner, Christine De Naeyer, Kerstin Stremmel, Reinhard Matz, Robert von Zahn, Christof Claser, Sigrid Schneider, Anja Hellhammer, Barbara Engelbach, Eusebius Wirdeier & Wolfgang Vollmer; Ln. m. SU, 350 Seiten, ISBN: 9783774304024]

#6: [Vintage Print zur Vorzugsausgabe von #4, abgezogen von Eusebius Wirdeier, 1998]

#7 [Cologne intime – Photos: Chargesheimer / Komposition & Text: Schmitt-Rost; Greven Verlag, 1957, LN. o. SU. (fehlt), o. Pag., 176 Tafeln]

#8 [Chargesheimer / Wolfgang Vollmer: Köln 1970 / 1995 – 25 Jahre Stadtarchitektur; mit Beiträgen von L. Fritz Gruber, Reinhold Mißelbeck u. Werner Strodthoff, Bachem Verlag, 1996, 96 Seiten, Pappband, ISBN: 3761612958]

#9 [Chargesheimer: Menschen am Rhein, Büchergilde Gutenberg, 1960, mit einem Text von Heinrich Böll,  Schutzumschlag & Typographie: Jürgen Seuss,  LN. m. SU., 8 Seiten, 98 Tafeln]

Klaus Barbie, 1984 ff

Klaus Barbie, 1984 ff

Tom Bowers Buch über Klaus Barbie war mein drittes Buch zur Geschichte des Nationalsozialismus (die ersten beiden standen in der elterlichen Bibliothek und waren Anne Franks Tagebuch & Kogons ›Der SS-Staat‹), und die dort geschilderten Menschen und Orte wurden dann 1988 durch Marcel Ophüls’ 4 1/2-stündigen Dokumentarfilm ›Hôtel Terminus‹ erschreckend lebendig.
Bowers Buch erschien ein Jahr, nachdem Barbie in Bolivien verhaftet und nach Frankreich ausgeliefert worden war, und Ophüls’ Film ein Jahr nach der Verurteilung zu lebenslanger Haft, in der Barbie 1991 starb. Vorausgegangen der Verhaftung war ein Jahrzehnt erfolgloser Bemühungen, vor allem von Serge & Beate Klarsfeld, Barbie nach dessen Lokalisierung in Bolivien Anfang der 70er Jahre für seine Verbrechen zur Verantwortung zu ziehen, bevor ein mit der Regierung Mitterand organisierter, geheimdiplomatischer Coup zur erfolgreichen Ergreifung Barbies führte. Verteidigt wurde Barbie übrigens von dem bizarren Anwalt Jacques Vergès.

Der Historiker Peter Hammerschmidt hat für sein neues Buch eine Fülle bisher unbekannter oder unzugänglicher Quellen auswerten können, u. a. die Akten des BND zu Klaus Barbie und dessen bis 2012 verschollenen Memoiren.

[Tom Bower: Klaus Barbie. Lyon, Augsburg, La Paz – Karriere eines Gestapo-Chefs; aus dem Englischen von Niels Kadrietzke, Rotbuch, 1984, 286 Seiten, kartoniert, m. 19 Photographien, ISBN: 3880222959]

[Peter Hammerschmidt: Deckname Adler – Klaus Barbie und die westlichen Geheimdienste; S. Fischer, 2014, 555 Seiten, GEB. m. SU, ISBN: 9783100296108, € 24,99]

Amos Oz: Sehnsucht – Drei Erzählungen

Amos Oz: Drei Erzählungen

»Dichter Nechamkin wohnte mit seinem einzigen Sohn Efraim, einem Elektriker und Ideologen, zusammen. Wie die meisten Kinder des Viertels glaubte auch ich, dieser Efraim übe eine furchtbare Geheimaufgabe im hebräischen Untergrund aus. Äußerlich betrachtet war Efraim ein kleinwüchsiger, dunkler Typ mit wildem Kraushaar, ein Handwerker, der fast immer im Blaumann herumlief und nur schwer die breiten Hände ruhig halten konnte. Er repariert Bügeleisen und Rundfunkempfänger und baute sogar eigenhändig verschiedene Sendegeräte. Gelegentlich verschwand er für ein paar Tage und kehrte dann braungebrannt und mißmutig zurück, um den Mund einen verächtlich angewiderten Ausdruck, als habe er bei seinen Wanderungen Dinge gesehen, die ihn zur Verzweifelung brachten. Efraim und ich hatten ein Geheimnis. Ende des Winters war ich zu seinem Adjutanten ernannt worden. Zu einem seiner Adjutanten.« (›Herr Levi‹, Seite 78)

Amos Oz: Sehnsucht – Drei Erzählungen | Insel | 1994 | aus dem Hebräischen von Ruth Achlama | Umschlag: Hermann Michels | Hc m. SU | 253 Seiten | ISBN: 345816636X

Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka – Erinnerungen an Greenwich Village

Foto 12.08.14 13 51 56»Als unschuldiger Provinzler aus dem French Quarter von New Orleans und aus Brooklyn zog ich mit Sheri Donatti zusammen, einer radikalen Version von Anais Nin, deren Protegé sie war. Sheri verkörperte all die neuen Trends in Kunst, Sex und Psychose. Sie sollte meine ›éducation sentimentale‹ werden. Ich machte einen Buchladen auf und ging auf die New School, mit einem GI-Bill-Stipendium. Ich begann mit dem Gedanken zu spielen, Schriftsteller zu werden. Ich dachte über die Beziehung zwischen Männern und Frauen nach, darüber, wie 1947 die Dinge lagen, als die beiden Geschlechter noch etwas umschloß, das Aldous Huxley eine ›feindliche Symbiose‹ nannte. Unsere Lektüre und unsere Gesprächsthemen haben als Landschaft wie das Wetter den Hintergrund gebildet. Im Vordergrund standen unsere Liebesaffären, unsere Freundschaften, das amerikanische Leben und die amerikanische Kunst, in die wir uns wie Schwimmer oder Taucher versenkten. Dieses Buch ist durchweg eine Erzählung, die innere Geschichte, die ein vom Leben in New York City erregter und verwirrter junger Mann in einer Glanzzeit der Stadt persönlich durchlebte.« (Seiten 6/7)

Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka – Erinnerungen an Greenwich Village | Berlin Verlag | 2001 | aus dem Amerikanischen von Carrie Asman u. Ulrich Enzensberger | mit einem Nachwort von Carrie Asman | HC m. SU | 189 Seiten | ISBN: 382700355

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | ****

pollack_kaiser»Wie so viele Auswanderer verläßt auch Mendel Beck im Mai 1888 Galizien in der Hoffnung, der Armut und Rückständigkeit seiner Heimatstadt den Rücken zu kehren – hier sieht er keine Zukunft für sich, egal, wie er sich abmüht, er kommt nicht vom Fleck. In Amerika ist das anders, dort bieten sich jedem zahllose Möglichkeiten, man muß es nur verstehen, die Chancen zu nützen. Mendel ist überzeugt, daß er es schaffen kann, an diese Erwartung klammert er sich wie der Ertrinkende an den Strohhalm.« (Seite 66)

Entlang zahlreicher recherchierter Lebensläufe wie dem des jüdischen Flickschusters Mendel Beck erzählt der gelernte Slawist & Historiker und heute als Journalist & Übersetzer tätige Autor Martin Pollack in seinem Buch Kaiser von Amerika von der knapp 40 Jahre währenden Emigrations-Welle, in der Millionen Osteuropäer seit den 1870er Jahren bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs ihre Heimat verließen, um in anderen Teilen der Welt ihr Glück zu suchen.

Im Mittelpunkt dieses erzählenden, historischen Sachbuchs steht das Armenhaus Österreich-Ungarns, das von Oswiecim (Auschwitz) an der Grenze zu Preußen bis Brody &
Tarnopol nahe der Grenze zu Rußland reichende ›Kronland‹ Galizien. In kunstvoll miteinander verschränkten Kapiteln beschreibt Pollack, warum die in Galizien lebenden Polen, Juden, Russen, Ruthenen (Ukrainer), Ungarn & Slowaken auswanderten, auf welchen Wegen & mit welchen Mitteln sie es taten, und welche Folgen die Emigration hatte – für sie selbst & für die daheim gebliebenen Familienmitglieder.

Der titelgebende ›Kaiser von Amerika‹ beschreibt dabei einen Trick, den zahlreiche ›Agenten‹ (heutiger Sprachgebrauch: Schlepper) der großen Hamburger & Bremer Schifffahrtslinien in Galizien anwandten, um ihre potentiellen & analphabetischen Klienten – verelendete Kleinbauern, Tagelöhner & Handwerker – von den Segnungen des gelobten Landes zu überzeugen: der ›Kaiser von Amerika‹, so ging das Verkaufsgespräch, würde, im Gegensatz zu jenem in Wien (oder in St. Petersburg), seine Untertanen wirklich lieben & habe dort ein Paradies auf Erden geschaffen, in das er ausdrücklich die Juden (Polen, Russen etc.) aus Galizien einlade…

Daß die Einwanderer in den Sweat-Shops der Lower East Side, den Stahlwerken Pennsylvanias & den Sümpfen Brasiliens & Argentiniens (auch dahin gingen zwischenzeitlich kleinere Emigrations-Wellen) kein halbwegs erträgliches Leben, geschweige denn ein Paradies, sondern nur eine neue Hölle auf Erden vorfanden, führte dazu, daß viele in die Heimat zurückkehrten, um von dort manchmal, etwa nach der nächsten Dürre- & Lebensmittelkatastrophe, erneut aufzubrechen: vom Regen in die Jauche – und dahin zurück.

Kaiser von Amerika ist – obwohl  reale & tragische Lebensläufe nacherzählt werden – an keiner Stelle rührselig, wie es sogenannte Erfahrungs-Bücher oft sind: der Autor hält sprachlich die Balance zwischen lebendiger & anteilnehmender Schreibweise, ohne die journalistische Präzision zu vernachlässigen. Obwohl es ein ›Lesebuch‹ ist & keinen ›wissenschaftlichen‹ Anspruch hat, habe ich dennoch folgendes vermißt: ein Quellenverzeichnis, ein Literaturverzeichnis zum Weiterlesen, und, vor allem, Legenden zu den knapp 20 beigefügten Photographien aus dem Privatarchiv des Autors, die ohne beschreibende Einordnung leider nur atmosphärisches Beiwerk sind, statt den Text zu illustrieren – schade darum.-

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien | dtv | 2013 | Paperback | 282 Seiten | ISBN: 9783423142656 | € 9,90