Archiv des Autors: Axel Stadtländer

Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand | ****

Pawel und Wladek sind fliegende Händler, die Second-Hand-Textilien aus dem reichen Teil des Kontinents auf den riesigen Märkten Osteuropas verhökern. Die Zeiten waren schon mal besser, denn die Konkurrenz durch asiatische Billigprodukte macht ihnen immer mehr zu schaffen. Daher ist es für die beiden notwendig geworden, ihr Geschäftsfeld zu erweitern. Aus der skurrilen Road Novel entwickelt sich schnell eine handfeste Kriminalgeschichte. Andrzej Stasiuk beschreibt in Hinter der Blechwand die untergehende bäuerliche Welt des alten Osteuropa, die auch unter der Oberfläche des Realsozialismus immer existiert hatte & durch die jetzt der scharfe Wind der kapitalistischen Globalisierung fegt. Er betrauert die sich auflösende Ordnung, in der alles zur Ware geworden ist und menschliche Beziehungen keine Bedeutung mehr haben. Stasiuk zeigt, dass uns kein „Eiserner Vorhang“ mehr von jenen Ländern trennt, die in der Staatenkonkurrenz unterlegen sind, sondern eine banale Blechwand, die Armut und Verbrechen verbirgt.

Suhrkamp | 2011 | 344 Seiten | Hardcover | 9783518422540 | 22,90 € |

Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte | *****

Tony Webster erinnert sich nach über 40 Jahren an seine Schulzeit, seine Schülerclique und  seinen Freund Adrian Finn, der als Letzter zu den altklugen Heranwachsenden stößt. Adrian war ein besonderer Mensch, der die Dinge immer etwas ernster als die Anderen nahm. Tony erzählt auch von der ersten Liebe zu Veronica, vom Schmerz der Trennung, von Eifersucht und Rachegefühlen. Doch das eigentliche Thema des Romans sind die Tücken der Erinnerung: vielleicht gibt es eine andere Geschichte, eine andere Version der Wirklichkeit…

Old Joe Hunt, der Geschichtslehrer der abgeklärten Gymnasiasten, stellt seinen Schülern die Frage: „Was ist Geschichte?“, auf die Tony mit der brillanten Phrase „Die Summe der Lügen der Sieger“ antwortet.  Doch Hunt fragt seine Schüler und uns: “Könnte es nicht auch die Summe der Selbsttäuschungen der Besiegten sein?“ Mit über 60 Jahren erkennt Tony Webster, dass die tragischen Ereignisse von damals sich ganz anders abspielten als in seiner Erinnerung.  Julian Barnes schafft es, uns durch ein Wechselbad der Gefühle zu führen und Altvertrautes in Frage zu stellen. Vom Ende einer Geschichte ist ein großer Roman, der zu Recht den Booker – Preis 2011 bekommen hat.

Kiepenheuer & Witsch | 2011 | 182 Seiten | Hardcover | Belletristik | 9783462044331 | 18,99 €

Klaus Bittermann: Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol | ****

 Unter dem genialen Titel Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol beschreibt Klaus Bittermann, der Verleger der Edition Tiamat, in kleinen Episoden Menschen aus dem Teil Berlin -Kreuzbergs, der früher als „SO 36“ bekannt war. Hier war das Zentrum der Hausbesetzer- und Alternativszene, hier lebten und leben immer noch eine Vielzahl von Migranten. Vor dem Mauerfall lag das Viertel am Rand Westberlins, kurz vor dem Niemandsland. Heute ist Kreuzberg eins der zentralen Quartiere der Hauptstadt und damit attraktiv für Leute mit höherem Einkommen. Dadurch wurde ein Prozess der „Gentrifizierung“ in Gang gesetzt: Wohnungen werden luxusmodernisiert, Mieten steigen, alteingesessene Mieter ziehen aus, kleine Geschäfte schließen, dafür machen sich die Läden breit, welche die neuen & coolen Wohlstandsbürger in ihrer knapp bemessenen Freizeit goutieren.
Kreuzberg ist mitten im Wandel, und Klaus Bittermann beobachtet in dieser Übergangszeit die kleinen Leute, die Rentner, Freaks und Alkis immer mit wohlwollender Sympathie, ohne sich anzubiedern. Allein die sehr komische Schilderung der Rituale am 1. Mai lohnt die Lektüre des Buches.

Edition Tiamat | 2011 | 191 Seiten | Paperback | Belletristik | 9783893201594 | 14,00 €

Kristof Magnusson: Das war ich nicht | ****

Der deutsch–isländische Autor Kristof Magnusson erzählt in Das war ich nicht die Geschichte dreier Menschen, deren Lebenswege sich unvorhersehbar kreuzen: Jasper, ein junger deutscher Investmentbanker, der jetzt in Chicago an der Börse große Deals macht; Henry, der große amerikanische Autor, dem leider seit dem 11. September 2001 kein Stoff mehr für einen Roman eingefallen ist, und schließlich Meike, seine deutsche Übersetzerin, die, vom Großstadtleben in Hamburg enttäuscht, alleine in Nordfriesland auf einem Bauernhof lebt. Kristof Magnusson hat den perfekten Unterhaltungsroman zur Finanzkrise verfasst, in dem alles schief geht, was schief gehen kann, aber die Liebe manches wieder gerade rückt. Klug, witzig, romantisch – und mit leichter Feder geschrieben.

Goldmann | 2011| 288 Seiten | Taschenbuch | Belletristik | 97834424745922 | 8,99 €

 

Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini | ****

Nach zwei großartigen Bänden mit Kurzgeschichten liegt jetzt der erste Roman des Münchener Rechtsanwalts Ferdinand von Schirach vor. Er erzählt die Geschichte des pensionierten italienischen Gastarbeiters Fabrizio Collini, der scheinbar ohne jegliches Motiv einen der mächtigsten deutschen Industriellen in dessen Hotelzimmer erschießt. Caspar Leinen, ein junger Anwalt, übernimmt diesen Mordfall als Pflichtverteidiger. Schnell wird ihm klar, dass der Tote mit dem Allerweltsnamen der Großvater seines besten Freundes war. Dieser freundliche und kluge, ältere Herr war für Leinen so etwas wie ein Ziehvater. Von moralischen Skrupeln geplagt, überlegt er, das Mandat niederzulegen, da der Angeklagte keine Aussagen macht und der Fall ohnehin eindeutig zu sein scheint. Schirach versteht es meisterhaft, in wenigen Sätzen Charakterstudien zu erstellen und der Geschichte eine innere Spannung zu geben, die den Leser gefangen hält. Nebenbei erklärt er uns, wie Rechtsprechung funktioniert und mit welchen Tricks alte Nazi-Seilschaften im Justizapparat der jungen Bundesrepublik eine Bestrafung von Kriegsverbrechern verhinderten.

Piper | 2011 | 195 Seiten | Hardcover | 9783492054751 | 16,99 € |

Robert Brack: Blutsonntag | *****

Am 17. Juli 1932 marschierten SA Verbände durch das „Gängeviertel“ im roten Hamburg–Altona, einer Hochburg der KPD. Durch diese Provokation kam es zu blutigen Straßenschlachten zwischen linken Arbeitern und Nationalsozialisten. Die Hamburger Polizei, offiziell noch unter sozialdemokratischer Führung, aber faktisch von Nazis unterwandert, schoss wahllos in die Menge. Dieses Gemetzel mit 18 Toten ging als „Altonaer Blutsonntag“ in die Geschichte ein. – Ausgehend von dieser realen Begebenheit hat Robert Brack eine spannende Story konstruiert: die nicht immer parteikonforme, kommunistische Redakteurin Klara Schindler ermittelt auf eigene Faust und interviewt mit dem modernen „Magnetofon“ Zeugen, um die Hintermänner des Massakers zu finden und zu bestrafen. – Dem Autor gelingt es, in diesem packenden Kriminalroman die Atmosphäre in den letzten Jahren der Weimarer Republik authentisch wiederzugeben. Und wie es sich für einen Roman gehört, der in der libertären Edition Nautilus erscheint, sind die Kommunisten zwar die Guten, doch die Anarchosyndikalisten – mit ihrer „direkten Aktion“ – die Besseren…

Edition Nautilus | 2010 | 256 Seiten | Paperback | 9783894017286 | € 13,90