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Owen Jones: Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse | *****

„Jammer nicht, schwing Dich Dich aufs Fahrrad und fahr‘ in die nächste Stadt, wenn es in Deinem Ort keine Jobs gibt…“
(Maggie Thatcher, frei zitiert nach Owen Jones: Prolls)

Wer im heutigen Großbritannien arm, alleinerziehend oder arbeitslos ist & Transferleistungen bezieht oder in einer Sozial-Siedlung zur Miete wohnt, muß sich um mangelnde öffentliche Aufmerksamkeit nicht sorgen: tagtäglich, in sämtlichen Medien und großen Teilen der Unterhaltungsindustrie wird die britische Mittel- und Oberschicht mit Horror-Geschichten von der Proll-Front versorgt – am widerlichsten auf der beliebten website „ChavScum“ („Proll-Abschaum“): minderjährige Mütter werden als „Prolletten-Nutten“ verunglimpft, Jungs in Kapuzen-Pullovern als „kriminelle Dealer“, Bezieher von Sozialhilfe als „asoziale Faulpelze“. Comedy-Kanäle wie das auch hierzulande beliebte „Little Britain“ bedienen das liberale Publikum mit gehobener Verächtlichmachung eines großen Teils der Bevölkerung – daß auch dort geschmacklose Kleidung, schlechtes Essen und sprachliche Schwächen des karikierten Personals im Mittelpunkt stehen, wirft einen neuen Blick auf den so hochgelobten „britischen Humor“…

In keinem anderen Land Westeuropas ist die Verachtung der ehemaligen Arbeiterklasse – oder, in bürgerlichem Diktum: der kleinen Leute – ausgeprägter & massenmedial verbreiteter als in Großbritannien. Der britische Historiker und Journalist Owen Jones hat sich in Prolls – Die Dämonisierung der Arbeiterklasse auf die Suche nach den Ursachen gemacht, warum Arme, Alte, Obdachlose, Kranke, aber auch Menschen mit einfachen Berufen – Kassiererinnen, Klempner, CallCenter-Mitarbeiter, Busfahrer oder Lager-Arbeiter – die Diskriminierung, Verachtung und den Hass des gesamten Establishments auf sich ziehen.
Dabei ist ihm ein bemerkenswertes Buch gelungen, das in einer Mischung aus Wirtschaftsgeschichte, politisch-ökonomischer Ideologie-Kritik und Sozial-Reportage einen Abriß der neuesten englischen (und nicht nur dieser) Geschichte bietet.

Jones erzählt zwei Geschichten: die erste handelt davon, warum und wodurch die während des gesamten 20. Jahrhunderts wichtige Arbeiterklasse und ihr politisch-aktivistischer Arm, die Gewerkschaften, nach dem Wahlsieg Maggie Thatchers im Jahr 1979 ihren politischen Einfluß, ihre soziale Wertschätzung & ihr Selbstbewusstsein als nützlicher Teil der Bevölkerung verloren.

Die zweite handelt davon, wie seit der konservativen Thatcher-Regierung und der sie ablösenden „sozialdemokratischen“ von Tony Blair („New Labour“) bis hin zur amtierenden Oberschicht-Regierung von David Cameron (23 der 27 Kabinett-Mitglieder sind Millionäre) das Establishment es geschafft hat, eine Ideologie zu etablieren, die denjenigen, die Opfer von Globalisierung, aktiv betriebener De-Industrialisierung und aufstiegsbehindernden Klassen-Schranken sind, die Schuld für die miesen Lebensverhältnisse, in denen sie leben müssen, in die eigenen Schuhe schiebt. Verkürzt zusammengefasst geht das so:

1. „Es gibt keine Klassengesellschaft mehr.“
Klassengesellschaft war eine marxistische Interpretation der Gesellschaft – das ist jetzt vorbei: mach Dich auf & sieh zu, daß Du diesen miesen Haufen von Versagern hinter Dir läßt…

2. „Wir sind alle Mittelschicht“
Du gehörst dazu – steig einfach auf, oben (bei uns) ist auch Platz für Dich…

3. „Soziale Probleme sind auf das moralische Versagen von Einzelnen zurückzuführen.“
Du hast es selbst in der Hand – werde Teil der Erfolgsgeschichte oder verrecke in Deinen verkommenen Verhältnissen…

Jones wertet ein Vielzahl empirischer Studien aus & führt Dutzende von Interviews: mit Betroffenen in den von der De-Industrialisierung verwüsteten Gemeinden Mittel- und Nord-Englands, mit meinungsbildenden Journalisten und mit zahlreichen Tory- und Labour-Politikern der letzten 30 Jahre. Die Darstellung sozialer Milieus, ihrer Hintergründe und Motivationen ist seriös begründet und in der Fülle des Materials überaus beeindruckend.

Seine Ausblicke in die Zukunft – nämlich daß die gute, alte Tante „Gewerkschaft“ sich lediglich der neuen „Unterschichten“ annehmen müsse, um die verlorene Bedeutung wiederzuerlangen – halte ich nur bedingt für realistisch, und mancherlei Redundanz & Wiederholung, vor allem im zweiten Teil des Buches, hätte ein beherzt zulangendes Lektorat deutlich minimieren können. Gleichwohl ist Prolls ein gelungenes & verdienstvolles Debatten-Buch, dessen Seriosität und gute Lesbarkeit sich man auch für die Analyse hiesiger Verhältnisse wünscht.-

Verlag André Thiele | 2012 | Hardcover | 314 Seiten | 9783940884794 | € 18,90