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Milovan Djilas: Land ohne Recht | ****

 In seiner 1958 in deutscher Sprache erschienen autobiographisch-essayistischen Erzählung Land ohne Recht berichtet der jugoslawische Autor, Theoretiker und spätere Politiker Milovan Djilas über seine Kindheit und Jugend im damaligen Königreich Montenegro von der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bis in die späten 20er Jahre – nun schon im ersten jugoslawischen Staat-,  als er sein Studium in Belgrad begann.

In den 30er Jahren wurde Djilas neben Josip Broz Tito und Edvard Kardelj einer der wichtigsten Aktivisten der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ),  sowie einer der Haupt-Organisatoren des Widerstands der kommunistischen Partisanen gegen Nazi-Deutschland und seine Verbündeten wie auch gegen serbische Nationalisten (Tschetniks) und kroatische Klerikal-Faschisten (Ustascha). Nach dem Zweiten Weltkrieg bekleidete er hohe Ämter in der KPJ sowie deren Nachfolge-Organisation, dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), bevor er wegen „staatszersetzender Tätigkeit“ von allen Ämtern enthoben wurde und zwischen 1956 und 1969 acht Jahre inhaftiert war. Djilas war der erste Dissident des zweiten jugoslawischen Staates; seine zahlreichen Romane, Erzählungen, Essays und biographischen Publikationen wurden weltweit rezipiert.

Land ohne Recht zeichnet ein vielschichtiges Bild des alltäglichen Lebens, der ökonomischen Verhältnisse und der politischen Zeitläufe der Marktflecken, Dörfer und Gemeinden sowie des schwer zugänglichen Hinterlandes von Montenegro, das bis 1875 in weiten Teilen zum Osmanischen Reich gehörte, dann durch den Berliner Kongress 1878 zum unabhängigen Fürstentum erklärt wurde (1910 zum Königreich), um nach Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 und dem Ende des Ersten Weltkriegs Teil des neugegründeten Königreichs Jugoslawien zu werden.

Der sozio-ökonomische Alltag in der weitgehend von großer Armut & Subsistenzwirtschaft geprägten Provinz einerseits sowie die ständigen politischen Spannungen im Grenzgebiet zwischen den Hegemonialmächten liefern die Motive für die zahlreichen Geschichten, Anekdoten und Mythen. Zwischen Blutrache und individuellem Banditentum (Haijduk), zwischen quasireligiöser Fürstenverehrung und Versuchen zaghafter Modernisierung, zwischen gleichgültigem Nebeneinander der Nachbarn bis zum ebenso gleichgültigen Massakrieren derselben: im Spannungsfeld von archaischen Traditionen, religiösen Gesetzen sowie einer häufig wechselnden Staatsraison bewegen sich die Menschen in diesem „Land ohne (staatsbürgerliches) Recht“, bevor am Ende der Erzählung der gemeinsame südslawische Staat zumindest teilweise die eklatanten Widersprüche und Ungleichheiten zu egalisieren verspricht.

Milovan Djilas ist kein großer Literat; sprachlich strotzt Land ohne Recht vor Pathos und Geschwurbel. Trotzdem lohnt die Lektüre, denn die Vielzahl der in dieser Chronik erzählten, kleinen Geschichten fügen sich durchaus kunstvoll zu einer großen & gelungenen Erzählung über diesen fernen Ort am Ende der Welt zusammen.

Kiepenheuer & Witsch | 1958 (vergriffen) | Hardcover | 341 Seiten