Schlagwort-Archive: Italien

Fabrizio Gatti: Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa | ****

gatti_bilalAuf der Flucht vor Armut und (Bürger-) Krieg sterben jährlich tausende Afrikaner an den Grenzen der Festung Europa. Eine der Hauptfluchtrouten verläuft von Westafrika durch die Staaten Mali und Niger quer durch die Sahara bis an die libysche Küste. Von dort aus geht es weiter auf ausgemusterten Fischerbooten nach Italien zur Insel Lampedusa. Wir kennen die Bilder: auf völlig überfüllten Schiffen sind halb verhungerte und verdurstete Menschen zu sehen, die von der Küstenwache in italienische Internierungslager gebracht werden. Der Journalist Fabrizio Gatti liefert eine glänzende Reportage dieser Leidens–Odyssee. Er ist auf LKWs mitgefahren, die mit bis zu 250 Menschen beladen sind, er berechnet, wieviel Gewinn ein Fahrzeug mit Flüchtlingen abwirft und wer davon profitiert. Gatti schleicht sich in Wallraff – Manier ins Lager auf Lampedusa ein und beschreibt die skandalösen Zustände, die dort herrschen. Diese aufwühlende Reportage gräbt sich tief in unser Gedächtnis ein und hinterlässt starke Zweifel, ob wir wirklich in der besten aller Welten leben.

Antje Kunstmann | 2010 | 457 Seiten | Hardcover | 9783888975875 | 24,90 €

Hermann Peter Piwitt: Heimat, schöne Fremde | *****

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„Geschichten und Skizzen“ untertitelt der Wallstein – Verlag den neuen Prosaband von Hermann Peter Piwitt, der zur Hälfte unveröffentlichte und neue Texte enthält wie auch verstreut publizierte  – etwa in Konkret, der FR oder der TAZ – von 1975 bis in die Gegenwart. Die Themen dieser manchmal nur wenige Seiten langen Notate reichen von Beobachtungen in Nachbarschaft & Kiez über Reisenotizen aus Italien bis hin zu scharfsinnigen politischen Essays, beispielsweise Das Verschwinden der Ursachen…aus dem Jahr 1982, einer eleganten Polemik gegen die inflationäre Ausbreitung esoterischen Humbugs, der die junge grüne Partei seit ihren Anfängen begleitete. Piwitt ist ein glänzender Stilist, und wir wünschen diesem gelungenen Buch die große Leserschaft, die es verdient.

Wallstein | 2010 | 247 Seiten | Hardcover | 97838306219 | € 19,90

Giancarlo De Cataldo: Romanzo Criminale | *****

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Der hauptberuflich als Richter tätige Autor erzählt in Romanzo Criminale die auf Tatsachen beruhende Geschichte des Aufstiegs und Falls der sogenannten Magliana-Bande, einer Vereinigung kleinkrimineller Ganoven aus dem ehemaligen römischen Arbeiterviertel Trastevere, die zwischen 1978 und 1989 Drogenhandel, Prostitution und Glücksspiel in Rom beherrschten.  Der Erfolg der klandestin operierenden Gruppe läßt sie schnell ins Fadenkreuz der konkurrierenden Mafia als auch des italienischen Staatsschutzes geraten, und die mögliche Beteiligung der Bande an der Entführung Aldo Moros als auch am Bombenattentat auf den Bahnhof in Bologna bietet Raum für vielfältige Spekulationen und Verschwörungstheorien. Giancarlo De Cataldo inszeniert diesen Stoff als spannenden Doku-Thriller, der mit den Mitteln des Krimi Noir zum literarischen Kammerspiel über ehrgeizige Träume und deren Scheitern gerät. Der nach dem Roman gedrehte Spielfilm von Michele Placido, der es bisher noch nicht in die deutschen Kinos geschafft hat, ist ebenfalls lohnenswert: eine traurig-brutale Gangster-Ballade, die gekonnt mit der Ästhetik und den Themen der Filme von Pasolini spielt.

Folio | 2010 | 575 Seiten | Hardcover | 9783852565088 | € 24,90

Michela Murgia: Accabadora | ****

murgia_accabadoraMaria ist das vierte und jüngste Kind einer armen Witwe in einem sardischen Dorf. Da die Mutter sie nicht mehr ernähren kann, wird das Mädchen im Alter von 6 Jahren an die Schneiderin des Dorfes gegeben, eine damals übliche Praxis: die alleinstehende Ziehmutter kümmert sich um das Mädchen und wird im Alter von ihr versorgt. Beide leben zusammen wie Mutter und Tochter. Maria, die in ihrer alten Familie immer die Letzte war, lebt jetzt im großen Haus von Bonaria Urrai und hat ein eigenes Zimmer. Aber Bonaria umgibt ein Geheimnis. Menschen aus dem Dorf kommen nachts in ihr Haus, es wird leise geredet. Gelegentlich macht auch sie sich abends auf den Weg zu Nachbarn und kommt erst in den frühen Morgenstunden wieder. Erst als erwachsene Frau erfährt Maria die ganze Wahrheit… Michela Murgia beschreibt meisterlich die archaische Welt, die in manchen Regionen Sardiniens noch bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts existierte – Accabadora ist ein Roman aus einer anderen Zeit, die noch nicht lange vergangen ist.

Wagenbach | 2010 | Hardcover | 170 Seiten | ISBN 9783803132260 | € 17,90

Angelo Petrella: Nazi Paradise | ****

petrella_naziEine schnelle, in obszön-schnodderiger Sprache verfaßte Noir-Story aus dem Großstadt-Dschungel Neapel. Der namenlose Protagonist ist Nazi-Skinhead und verbringt sein Leben zwischen Schlägereien mit „Bullen“ und „linken Zecken“, dem Hacken von Bankkonten, Randale im Fußballstadion und der Suche nach „Schlampen“, die Typen wie ihn toll finden. Doch plötzlich steckt er inmitten einer Affäre um korrupte „Politikerärsche“ und „Bullenschweine“ und wird auch noch von einem Kameradenschwein verraten: Nazi Paradise ist ein literarischer Schnappschuss aus einer entgleisten Welt, in der Regellosigkeit die Regel ist.

pulp master | 2009 | 115 Seiten | Taschenbuch | 9783927734432 | € 12,80

Massimo Carlotto/Marco Videtta: Wo die Zitronen blühen | **

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In seinem dritten ins Deutsche übertragenen Roman erzählt uns der italienische Autor Massimo Carlotto eine durchaus spannende Geschichte aus dem Veneto: nach dem zunächst rätselhaft und sinnlos scheinenden Mord an seiner Verlobten macht sich der einer renommierten Juristen-Familie entstammende Jung-Anwalt Francesco auf die Suche nach dem Mörder und den Hintergründen der Tat. Dabei gerät er in einen Sumpf aus Lügen und Verbrechen, in dem die familiären Industriellen-Clans Norditaliens perfekt mit der süditalienischen und rumänischen Mafia zusammenarbeiten und in dem auch der Vater des Protagonisten eine unrühmliche Rolle spielt.
Leider mißlingt es Carlotto und seinem Co-Autor, dem Drehbuch-Autor Marco Videtta, diesen Stoff in eine ansprechende, lesbare Form zu bringen: anstatt die Hintergründe und Motive der zahlreichen Figuren zu beschreiben und dramaturgisch zu entwickeln, werden sie wie in einem pädagogischen Lehrstück – klischeehaft und blaß – unvermittelt auf die Bühne gestellt, wo sie agieren, als hätte man sie aus einem politisch-psychologischen Sachbuch über die Mafia dorthin kopiert. Insgesam wirkt dieser Buch wie die mißlungene Zweitverwertung eines urprünglich als Drehbuch konzipierten Textes, der mit schneller Feder zum Roman umgewidmet wurde. Nachdrücklich zu empfehlen sind aber die ersten beiden Bücher dieses Autors, Arrivederce amore, chiao und Die dunkle Unermeßlichkeit des Todes .

Tropen | 2009 | 215 Seiten | Hardcover | 9783608502039 | € 18,90