Archiv der Kategorie: Politik + Geschichte

Hermann Peter Piwitt: Lebenszeichen mit 14 Nothelfern | *****

Herrmann Peter Piwitt: Lebenszeichen mit 14 Nothelfern„Und wir hatten Fluchtwege. Das riesige Haus, wo sich im Lauf der Zeit immer neue bislang verbotene Zimmer, Kammern, Dachböden auftaten. Wälder und Teiche, die ganze Welt stand uns offen. Das ganze Land drum herum. Wir flüchteten vor der Familie nicht. Wir nahmen sie einfach nicht wahr. Wir liefen im Winter Schlittschuh. Und gruben sommers uns Höhlen in Strohmieten. Wir gingen in die Teichwiesen zum Schwimmen. Und wenn es regnete, kamen wir abends von Freunden, vom Briefmarkentauschen, heim und waren hungrig. Habe ich je Schularbeiten gemacht? Ich erinnere mich nicht.“ (S. 10)

Die Lektüre von Hermann Peter Piwitts schmalem Erinnerungsbuch Lebenszeichen mit 14 Nothelfern läßt den Leser demütig zurück: wegen der Schönheit seiner knappen Sätze ebenso wie der pointierten Zuspitzungen, die nie wegen des Effektes oder billigen Beifalls gesetzt werden; und auch wegen der kunstvollen Verschränkung der erzählten Erlebnisse & Reflexionen, die die rein chronlogische Erzählung immer wieder aufhebt und in sorgsam komponierter Vor – und Rückschau die Gewißheiten eines linearen Lebenslaufs konterkariert.

Wie wird man, was man ist, wenn man kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in ein vermufftes und dünkelhaftes Mitläufer-Elternhaus hineingeboren wird? Piwitt beschreibt die kindlichen Fluchten aus dem familiären Korsett, denen die postpubertäre Rebellion folgt und die intellektuelle Prägung in den 50er Jahren durch das Studium in Frankfurt bei Adorno. Danach dann Wanderjahre nach Hamburg, Berlin und wieder zurück nach Hamburg: die Versuche, als Schriftsteller Fuß zu fassen, sind mal mehr, mal weniger erfolgreich; die Versuche, im literarischen Betrieb fest angestellt zu reüssieren, scheitern. Er bleibt, obwohl er in den 70ern für alle großen Feuilletons schreibt, ein Außenseiter. In der Würdigung eines seiner ‚Nothelfer‘ wird deutlich, warum:

„Und noch einem verdanke ich, daß ich weiterlebte. Hermann L. Gremliza. Sein Ekel vor den großen Räubern und denen, die ihr armseliges Talent ihnen zur Verfügung stellten, um an ihren Tischen sitzen zu dürfen, war unerbittlich; wie verzweifelt er oft war, ließ er sich nicht anmerken. Er wurde krank und gesundete. Er ist unter den Nothelfern, die mir wohlwollten.“ (S. 84)

Einhergehend mit dem Älterwerden dann die Entdeckung des Südens als Rückzugsraum und – 20 Jahre später – der Verkauf des Anwesens in Italien, nachdem die neoliberale Verwertungslogik aus dem Bergdorf ein Touristenkaff gemacht hat. In die Beschreibung der eigenen Krankheiten-Historie schleicht sich dann ein galliger Tonfall, der komischer Elemente nicht entbehrt. Das schönste Wort in diesem an schönen Worten nicht armen Buch ist übrigens ‚Raffgardinenmilieu‘.-

Hermann Peter Piwitt: Lebenszeichen mit 14 Nothelfern | Wallstein | 2014 | Gebunden | 143 Seiten | 9783835313798 | € 17,90

Jörg Schröder: Mammut – MÄRZ-Texte 1 & 2 / 1969-1984

Jörg Schröder: MammutAls ich 1984 meine Buchhändler-Ausbildung in der Kölner Traditionsbuchhandlung GONSKI begann – die damals zum Imperium der Bonner Traditionsbuchhandlung BOUVIER gehörte –, nahmen mich die beiden ersten Sortimenter unter ihre beschützenden & inspirierenden Fittiche: Frau Umlauf war verantwortlich für die ›Unterhaltung‹, Herr Zeller für die ›Literatur‹.

Wolfgang Zeller war ein stadtbekannter Impressario des Kölner Kulturbetriebs. Aus Schwaben stammend, wo er sich als junger Mann am Ballett versucht hatte, verschlug es ihn in den späten 60ern nach Köln, wo er zur Szene um den Kneipier & Theatermacher Walter ›Wally‹ Bockmayer gehörte.

Vom ersten Tag der Ausbildung an beschenkte er mich großzügig mit Büchern, von denen er glaubte, daß sie zu mir passen würden – paßte schon, meistens: durch ihn lernte ich u. a. W.S. Burroughs, Gisela Elsner & Thomas Bernhard kennen. Schröders gewichtiger MAMMUT-Band war auch ein Geschenk von ihm: ein Sampler mit literarischen Texten, Essays & Polemiken aus den ersten 15 Jahren des März-Verlags.

Ein Auszug aus dem Text, den Jörg Schröder anläßlich der posthumen Verleihung des Petrarca-Preises an Rolf Dieter Brinkmann 1975 am Mont Ventoux (unter Anwesenheit von Hubert Burda, Michael Krüger, Maleen Brinkmann, Peter Handke und anderer Kulturbetriebler) verfasste & der im April 1983 in der taz erschien:

„Am nächsten Morgen. Balkon. Steh ich da. Ich denke, das kann doch nicht wahr sein. Ein blaues Kleid mit weißen Punkten, ein bißchen verhuscht, das ist doch Maleen Brinkmann. Leck mich am Arsch. Ich soll in den Balkon versinken. Jetzt war mir natürlich klar, bella intuizione, wem die den Preis verleihen wollten und warum der Krüger nicht wollte, daß ich anreise. Flash. Wem kann man posthum so einen Preis verleihen? Brinkmann! Posthum natürlich. Was für ein Wichs. Und dann kam auch schon der pockennarbige bleiche Born aus dem Hotel in seinem Jeansanzug raus und ging auf Frau Brinkmann zu, und ich war so braungebrannt und dünn und sah gut aus, und da habe ich mich schon geschämt, daß ich so wenig kränklich aussah, und gleich werden sie mich da unten alle anmachen, die ganze Bagage. Und dies und das. In meiner komischen Khakijacke. Es gibt Situationen, verstehst Du, wo man lieber nicht so gesund aussehen will. Ich habe noch kurz überlegt, ob ich nicht lieber ’ne Mücke machen soll. Da kam auch noch der Brock ganz locker und machte schon die große Regiebewegung – Komm Peter, mach Dienst. Und Handke. Das darf man ja eigentlich gar nicht erzählen, und deswegen muß man es erzählen. Das ist ja so grauenhaft. Da hatte dieser Fitti, dieser Handke, dieser blöde Spagyriker, hatte der sich doch tatsächlich schon seine hochmodernen Khakihosen bis zum Knie hochgekrempelt, völlig vergeistigt hochgekrempelt, seine Seidenstrümpfe ausgezogen; dumpf auf seinen dürren Beinen stakste er umher und entblödete sich nicht, tatsächlich die Kinderstufen in dieses nichtgefüllte Piscine runterzugehen und in der grünen Restpampe herumzuwaten, hin und her. Entsetzlich.“ (S. 441/442)

Jörg Schröder (Hrsg.): MAMMUT – MÄRZ-Texte 1 & 2 / 1969-1984 | März Verlag | 1984 | 1.274 Seiten | LN m. Schutzumschlag | ISBN: 3888800325

Willy wählen!

Willy wählen!Ich erinnere mich noch gut an den November 1972. Gerade in die 4. Klasse versetzt (»Burkhards gute Leistungen und sein offenes Wesen werden durch ungestüme Temperamentsausbrüche beeinträchtigt«), schmückte wochenlang jener ›Willy wählen‹ – Button erst die ›Windjacke‹ genannte Polyester-Zumutung mit Strickbündchen, dann den Anorak.

Während zu Hause mein Vater mit meiner Mutter ein taktisches Wahlbündnis schmiedete – er wählte zum ersten Mal mit beiden Stimmen die Sozen & meine Mutter mit ihrer Zweitstimme die FDP –, zog unser Klassenlehrer alle Register, um uns Dötzchen vor dem Kommunisten und Landesverräter Herbert Frahm Angst zu machen.

Er illustrierte das gerne mit Geschichten aus der Universität Köln, wo er gerade sein 2. Staatsexamen abgelegt hatte. Dort sei, so schimpfte er lauthals tagaus, tagein mit roter Rübe, ein unglaubliches Chaos ausgebrochen: die männlichen Studenten trügen die Haare bis zum Arsch & sähen aus wie Mädchen, und diese wie jene legten unisono die Füße auf die Tische & tränken Cola während der Vorlesung! Ob unseren Eltern denn überhaupt klar sei – und dabei nahm er uns paar Willy-Button-Träger in seinen wirren & aufgeregten Blick –, daß mit dem Extremisten Brandt dieser langhaarige Abschaum in Kürze dieses Land regieren werde?

Natur- & altersgemäß hatten wir diesen ungestümen Temperamentsausbrüchen nichts entgegenzusetzen, und ein bißchen Angst bekam ich schon. Meine Eltern hingegen ließen sich nicht irritieren und wählten Willy. Daß aus dem großen Aufbruch nichts wurde, nahm mein Vater gelassen hin. Er war der klassische Wechselwähler & bildete auch fürderhin mit meiner Mutter stets ein Wahl-Team. Sie wählten noch ein weiteres mal ›fortschrittlich‹, nämlich jene Truppe, die die Zerstörung Jugoslawiens mitverantwortete & Hartz IV auf den Weg brachte – ersteres empörte meinen Vater, letzteres fanden beide gut. Beide hassten Hitler und anerkannten die Schrecken des Holocaust‘, glaubten aber gleichwohl, daß die Juden in Israel nicht wiederholen dürften, was ihnen selbst widerfahren war. Ich glaube, sie würden heute Merkel wählen.–

Armin T. Wegner: Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste | *****

Wegner_Tiff:Layout 1Der vom Wuppertaler Germanisten Andreas Meier herausgegebene und mit kritischem Apparat versehene Lichtbildvortrag des Juristen, Lyrikers, Reiseschriftstellers & Sanitätsunteroffiziers Armin T. Wegner (1886 – 1978) über die Vertreibung & Ermordung der Armenier im Schatten des Ersten Weltkriegs ist ein gelungenes Beispiel für eine interdisziplinäre Publikation im Spannungsfeld zwischen literaturhistorischer Forschung, historischer Quellenkritik, Photographiegeschichte & medienhistorischer Einordnung. Neben dem hier erstmals publizierten Vortrag, der aus dem im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegenden Nachlaß Wegners rekonstruiert wurde, unternimmt Meier den Versuch, die auch dort (und in anderen Archiven verstreut) liegenden photographischen Objekte (Abzüge, Glasplatten, Negative) eindeutig zuzuordnen, was aufgrund fehlender (oder falscher) Beschriftung & uneindeutiger Herkunft außerordentlich schwierig ist.

Armin T. Wegner gilt als einer der wenigen Augenzeugen der massenhaften Entrechtung, Vertreibung und genozidalen Vernichtung der Armenier im Verlauf des ersten Weltkriegs. Der titelgebende Lichtbildvortrag, den er erstmals am 19. März 1919 in Berlin hält, basiert auf seinen Beobachtungen, die er in den Jahren 1915/16 als Angehöriger deutscher Sanitätseinheiten im Osmanischen Reich gemacht hatte. Auch ein Teil der dort gezeigten Photographien stammen von ihm selbst, andere waren bereits publiziert oder stammen aus anderen Quellen, was Wegner in der Folge neben der Anerkennung seiner Anstrengungen, die Greueltaten an der armenischen Bevölkerung publik zu machen, auch den Vorwurf mangelnder Seriosität eintrug, etwa wenn vereinzelte Bilder nachweisbar nicht das darstellten, was sie behaupteten. Deutsch-national gesinnte Kreise und die kemalistischen Jungtürken hielten die auch heute noch vom türkischen Establishment vertretene These, die Vertreibungen & Exekutionen seien die ausschließliche Folge kriegsbedingter Notwendigkeiten gewesen, auch damals für den alleinigen Grund der Ereignisse & wollten Kritik am jeweiligen Verbündeten um jeden Preis vermeiden.

In seinem Nachwort beleuchtet der Herausgeber Wegners Künstler – Biographie als auch dessen werkgeschichtliche Entwicklung und zeigt anhand zahlreicher Beispiele, daß sich Wegner selbst stets mehr als Dichter und Literat denn als Journalist oder Dokumentarist verstand, der im Zweifel lieber eine spannende als eine wahre Geschichte erzählen wollte.

Der ergänzende Essay des ehemaligen Journalisten und sachkundigen Kenners der Ereignisse um die Vertreibung & die Ermordung der türkischen Armenier, Wolfgang Gust, ordnet die forschungsaktuelle Quellenlage, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, ob und welche deutschen Offiziere (als Teile deutscher Einheiten als auch als Verbindungsoffiziere in verschiedenen osmanischen Heereseinheiten) oder Beamte in den entsprechenden Ministerien bereits zum damaligen Zeitpunkt Kenntnis von den Massenvertreibungen & -exekutionen hatten. Die sich aus dem ausführlichen Studium von Quellen aus dem „Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes“ ergebenden Vermutungen, deutsche Militärs oder Beamte seien auch direkt an Greueltaten an der armenische Bevölkerung beteiligt gewesen, lassen sich – bis auf einen Fall – nicht belegen. Die Nachweise hingegen, daß leitende Beamte & Diplomaten z.T. ausführliche Kenntnisse der von Wegner berichteten Ereignisse hatten, zeigen einmal mehr, welche Tugend im Kriegsfall zu den ersten Opfern gehört.-


Wallstein | 2011 | Hardcover | 215 Seiten | 9783892448006 | € 24.-


Links:  Wallstein Verlag  Armin T. Wegner  Andreas Meier  Wolfgang Gust

Milovan Djilas: Land ohne Recht | ****

 In seiner 1958 in deutscher Sprache erschienen autobiographisch-essayistischen Erzählung Land ohne Recht berichtet der jugoslawische Autor, Theoretiker und spätere Politiker Milovan Djilas über seine Kindheit und Jugend im damaligen Königreich Montenegro von der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bis in die späten 20er Jahre – nun schon im ersten jugoslawischen Staat-,  als er sein Studium in Belgrad begann.

In den 30er Jahren wurde Djilas neben Josip Broz Tito und Edvard Kardelj einer der wichtigsten Aktivisten der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ),  sowie einer der Haupt-Organisatoren des Widerstands der kommunistischen Partisanen gegen Nazi-Deutschland und seine Verbündeten wie auch gegen serbische Nationalisten (Tschetniks) und kroatische Klerikal-Faschisten (Ustascha). Nach dem Zweiten Weltkrieg bekleidete er hohe Ämter in der KPJ sowie deren Nachfolge-Organisation, dem Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), bevor er wegen „staatszersetzender Tätigkeit“ von allen Ämtern enthoben wurde und zwischen 1956 und 1969 acht Jahre inhaftiert war. Djilas war der erste Dissident des zweiten jugoslawischen Staates; seine zahlreichen Romane, Erzählungen, Essays und biographischen Publikationen wurden weltweit rezipiert.

Land ohne Recht zeichnet ein vielschichtiges Bild des alltäglichen Lebens, der ökonomischen Verhältnisse und der politischen Zeitläufe der Marktflecken, Dörfer und Gemeinden sowie des schwer zugänglichen Hinterlandes von Montenegro, das bis 1875 in weiten Teilen zum Osmanischen Reich gehörte, dann durch den Berliner Kongress 1878 zum unabhängigen Fürstentum erklärt wurde (1910 zum Königreich), um nach Zusammenbruch der Mittelmächte im Herbst 1918 und dem Ende des Ersten Weltkriegs Teil des neugegründeten Königreichs Jugoslawien zu werden.

Der sozio-ökonomische Alltag in der weitgehend von großer Armut & Subsistenzwirtschaft geprägten Provinz einerseits sowie die ständigen politischen Spannungen im Grenzgebiet zwischen den Hegemonialmächten liefern die Motive für die zahlreichen Geschichten, Anekdoten und Mythen. Zwischen Blutrache und individuellem Banditentum (Haijduk), zwischen quasireligiöser Fürstenverehrung und Versuchen zaghafter Modernisierung, zwischen gleichgültigem Nebeneinander der Nachbarn bis zum ebenso gleichgültigen Massakrieren derselben: im Spannungsfeld von archaischen Traditionen, religiösen Gesetzen sowie einer häufig wechselnden Staatsraison bewegen sich die Menschen in diesem „Land ohne (staatsbürgerliches) Recht“, bevor am Ende der Erzählung der gemeinsame südslawische Staat zumindest teilweise die eklatanten Widersprüche und Ungleichheiten zu egalisieren verspricht.

Milovan Djilas ist kein großer Literat; sprachlich strotzt Land ohne Recht vor Pathos und Geschwurbel. Trotzdem lohnt die Lektüre, denn die Vielzahl der in dieser Chronik erzählten, kleinen Geschichten fügen sich durchaus kunstvoll zu einer großen & gelungenen Erzählung über diesen fernen Ort am Ende der Welt zusammen.

Kiepenheuer & Witsch | 1958 (vergriffen) | Hardcover | 341 Seiten

Emmanuel Carrère: Limonow | **/***

 Wie portraitiert man einen Widerling, oder im Duktus des Autors, einen „Drecksack“? Der französische Schriftsteller & Filmemacher Emmanuel Carrère wählt für sein biographisches Buch über den russischen Autor & Politiker Eduard Limonow (bürgerlich Eduard Sawenko) die Form der literarischen Reportage, angereichert mit biographisch-essayistischen Ansichten über die beschriebenen Zeitläufte im Spannungsfeld von russischem Dissidententum, Kaltem Krieg und Zerfall des Ostblocks 1989ff.

Limonov (*1943) startet seine Karriere als jugendlicher Kleinkrimineller in der ukrainischen Industriestadt Charkow, wo er als avantgardistischer Lyriker erste Kontakte zu den lokalen Samisdat-Zirkeln knüpft. In den 60er Jahren zieht er nach Moskau, wo er als Schneider & Autor Teil des literarisch-politischen Untergrunds und im Konkurrenzkampf mit den „prominenten“ Dissidenten ein randständiges Leben als Rüpel, Radikal-Dissident und Playboy führt. In New York entstehen zwischen 1974 und 1980 etliche Bücher, von denen Fuck Off, Amerika, das 1979 in Frankreich erscheint, der erste internationale literarische Erfolg für Limonov wird. Nach weiteren Exil-Jahren in Frankreich kehrt er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Rußland zurück, wo er als politischer Agitator und Gründer der „Nationalbolschewistischen Partei Rußlands“ aktiv ist. Während der Kriege im zerfallenden Jugoslawien nimmt Limonow auf Seiten serbischer Milizen an Kampfhandlungen wie der Zerstörung Vukovars & der Belagerung Sarajewos teil und vervollständigt hiermit sein eigenes, nun ja – : Portrait des Arschlochs als alter Sack.-

In der Pressemitteilung schreibt Verleger Andreas Rötzer: „…Carrère sagt heute über ihn [Limonow,BS], er fasziniere ihn noch immer, aber Sympathie hege er keine für ihn.“ Dies kann man nur als vorauseilende Schadensbegrenzung deuten, dem die Besorgnis zugrunde liegt, der Leser könne die ständig im Text aufscheinende „Fasziniertheit“ des Autors vom Gegenstand seiner Betrachtung genau für das halten, was sie zu verbergen vorgibt: nämlich die nicht zu leugnende Bewunderung & Verehrung, die der bourgeoise Intellektuelle Carrère für den Frauenverächter, Waffennarr, todessehnsüchtigen & reaktionären Wirrkopf Limonow hegt. An manchen Stellen spricht er ganz offen vermittels des vereinnahmenden „Wir“ von den gemeinsamen Wurzeln avantgardistischer Intellektualität, die sie beide – trotz trennender Ost-/West-Sozialisation – letztlich verbinde. Irgenwann einmal sitzt sogar Putin mit den Genies Limonow & Carrère im selben Boot – spätestens hier kippt das Märchen in die Groteske.

Stark ist Limonow in der Beschreibung jener Zeiten, in denen es noch Orientierung gab für einen ehemaligen französischen Salon-Linken: so gelingt dem Autor mit der Erzählung von Limonows Kindheit und Jugend, den politisch-kulturellen Verhältnissen in den verschiedenen sowjetischen Dissidenten-Szenen der 60er-Jahre und den russischen Exilanten-Zirkeln in New York & Paris durchaus ein spannendes & gut geschriebenes Stück Doku-Literatur.
Daß Carrère sich im weiteren Verlauf der biographischen Erzählung zunehmend selbst in den Vordergrund rückt und den Lauf der Welt eitel & selbstverliebt beplappert, ist zunächst noch langweilig und redundant, später dann, als die Weltgeschichte ihm sein Werkzeug für die zukünftige politische & gesellschaftliche Beurteilung der Wirklichkeit weggenommen hat – in den Kapiteln über Jelzin, Putin & Jugoslawien – nur noch ärgerlich. Und so kann man am Ende des Buches tatsächlich so etwas wie Geistesverwandtschaft zwischen dem portraitierten Künstler und seinem Biographen feststellen, die sich unweigerlich einstellt, wenn ein Wirrkopf über einen anderen schreibt. Irgendwie, nun ja-: faszinierend.-

Matthes & Seitz | 2012 | Hardcover | 414 Seiten | 9783882219951 | € 24,90